Bluteis: Thriller (German Edition)
unten ziehen, ebenso wie seine Kleidung und den Rucksack mit der darin befindlichen Ausrüstung. Nachdem sie Sicherheitsregel Nummer eins schon missachtete, wollte sie wenigstens die zweite einhalten.
Sie flitzte im ersten Morgenlicht die schneebedeckten Ausläufer des Roseggletschers hinab. Hinter dem See begann das Rosegtal, das sie langsam abfallend nach Pontresina führen würde. Sandra Thaler entschied, auf der Südostseite des Piz Corvatsch wieder aufzusteigen. Sie hatte noch genug Reserven. Zwei Stunden war sie bisher erst unterwegs. Für eine Strecke, für die Freizeitsportler mindestens vier Stunden benötigt hätten.
Unten am See angekommen, zog sie die Felle wieder auf und ging vorsichtig um die Eisfläche herum. Im Osten riss die Wolkendecke für einige Sekunden auf und ließ die aufgehende Sonne durch. Training hin oder her, sie musste innehalten und den Blick über Roseg- und Sellagletscher für einige Minuten genießen. Dabei war ihr, als bewegten sich weiter oben, nicht weit von der Stelle, an der sie die Schulter des Il Chapütschin überquert hatte, Lichter auf dem Roseggletscher. Waren da Tourengeher mit Stirnlampen zwischen den Gletscherspalten unterwegs? Benötigte jemand dort oben Hilfe? Sandra horchte achtsam in die Stille des Bergmorgens. Doch niemand rief um Hilfe oder gab Notsignale ab. Die Wolken schoben sich zusammen, und es wurde wieder dunkler. Ja, da bewegten sich Lichter über den Gletscher. Und – aber das konnte eine Täuschung sein, weil sie kurz in die Sonne geblickt hatte – es schien ihr, als würde der Gletscher an einer Stelle mit Licht angefüllt sein. Dann war das Schimmern wieder weg. Und die anderen Lichter plötzlich auch. Sie musste sich getäuscht haben.
Sandra schnaufte tief durch und setzte ihren Weg fort. Der kalte Schnee knarzte unter ihren Ski, wenn sie einen Fuß vor den anderen setzte. Hinter ihr entstand eine Spur, über die sich nachkommende Sportler sicherlich freuen würden. Sie blickte sich noch einmal nach hinten um. Da war auch schon der erste Skifahrer. Er musste ziemlich flott hinter ihr hergekommen sein, denn überholt hatte sie keinen. Und sie war sehr schnell unterwegs. Recht viel langsamer konnte dieser Kollege auch nicht aufgestiegen sein. Erstaunlich. Aber in dieser Gegend gab es eben diese höhentrainierten Naturtalente.
Sie wollte zügig weiterschnüren, um den Abstand zu vergrößern. Eingeholt zu werden war unter ihrer Würde, von wem auch immer. Keine Frau auf dieser Welt konnte sich schneller auf Skiern den Hang nach oben bewegen als Sandra Thaler. Das würde sie bei der Weltmeisterschaft unter Beweis stellen. Und nur wenige Männer würden schnellere Zeiten abliefern.
Doch dieser Kerl hinter ihr – er kam näher und näher. Auch als Sandra nach wenigen Minuten wieder auf Betriebstemperatur gekommen war und wie am Gummiband gezogen den Anstieg hinaufglitt, konnte sie ihn nicht abschütteln. Der Kerl war ebenfalls allein unterwegs, da war kein weiterer Skifahrer bei ihm. Allmählich wurde ihr mulmig. Wollte er etwas von ihr? Und wenn, was? Ein heimliches Wettrennen? Wahrscheinlich. Vergewaltigung auf dem Gletscher – davon hatte sie noch nie gelesen. Aber es gab so manches, wovon die Welt nichts gelesen hatte, das wusste sie.
Der Mann trug schwarze Skibekleidung. Wie hundert andere auch. Er holte auf. Sandra legte einen Zahn zu. Wenigstens war das gutes Training. Immer wieder drehte sie sich um. Der Kerl kam näher. Wie machte er das? Auch ein Weltmeisterschaftsaspirant? Oder ein wirklich gut trainierter Hobbysportler?
Sandra beschloss, sich einholen zu lassen. Keine Panik. Das war ein Sportler, kein Monster. Der Mann würde an ihr vorbeiziehen, vielleicht kurz grüßen. Der Kerl legte eine harte Trainingseinheit hin, mehr nicht. Sie blieb stehen. Es konnte nur zwei oder drei Minuten dauern, bis er zu ihr aufgeholt haben würde. Sandra stellte die Ski quer zum Hang und betrachtete den Aufsteigenden. Wirklich, respektables Tempo, muss ich sagen.
Der Mann zog im Gehen den Reißverschluss seiner Skijacke auf, langte nach innen und hatte auf einmal ein Schießeisen in der Hand. Sandra riss die Augen auf. Sie packte ihre Skistöcke und fuhr drei Meter quer. Wenn ich mich bewege, trifft er mich nicht. Sie hörte das Krachen von zwei Schüssen. Zwei Kugeln schlugen nur wenige Zentimeter von ihren Beinen entfernt im Schnee ein. Hundert Meter – zu viel für einen gut plazierten Schuss, was? Besonders, wenn dein Herz auf hundertachtzig
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