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Bluteis: Thriller (German Edition)

Bluteis: Thriller (German Edition)

Titel: Bluteis: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Ritter
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Doch ohne irgendeinen Hinweis – außer des diffusen Wechsels der Lichtverhältnisse – zerrann die Zeit in eine einzige wabernde Wolke aus Gestern, Heute und Morgen. Wobei das Heute einen immer größeren Platz einnahm. Sie befand sich in einem riesigen Heute, in einer nach vorn und hinten weit gedehnten Gegenwart. Das Morgen interessierte sie schon lange nicht mehr. Und an das Gestern konnte sie sich nicht mehr entsinnen.
    Jeden Tag nach dem Erwachen brauchte sie länger, um sich an ihren Namen zu erinnern. Ihre Heimat, ein Elternhaus, Orte ihrer Jugend – das war alles bereits nach einer Woche weg gewesen. Sie hatte noch darüber nachgedacht, dass es mit diesen Spritzen zu tun haben müsste, die ihr täglich verabreicht wurden. Doch irgendwann war ihr auch das aus dem Bewusstsein gerutscht. Es war ihr nicht egal geworden. Es war Teil ihres Lebens in dieser riesigen Wolke des Jetzt geworden, in der sie sich befand.
    Seit einiger Zeit – drei Tagen oder zwei Minuten? – war sie sich sicher, dass sie bald auch ihren Namen verlieren würde. Sie klammerte sich an ihn wie an ein dünnes Seil, das sie davor bewahrte, eine tausend Meter hohe senkrechte Wand hinabzustürzen. Sie kämpfte um ihren Namen. Um ihr »Sandra«. Und gleichzeitig wusste sie, dass sie ihn verlieren würde.
    Wie war sie hierhergekommen? War sie schon immer hier gewesen? Das waren die Fragen, mit denen sie sich stundenlang – oder waren es Tage? – beschäftigte, immer dann, wenn nicht diese schwarze Frau ihr ihre Lektionen erteilte. Kisi und ihre Lektionen waren am Anfang schwer zu ertragen gewesen, denn Sandra hatte keine Ahnung, warum sie das alles lernen sollte. Zahlen von Bevölkerungen afrikanischer Länder. Getreidesorten. Methoden des Reisanbaus. Sie kannte die Vorzüge der Jatropha-Pflanze bald aus dem Effeff. Und irgendwann begann sie sich tatsächlich dafür zu interessieren. Die Lektionen wurden zu Höhepunkten des Tagesablaufs. Nachts träumte sie von den unendlichen Weiten der afrikanischen Ebenen. Von glücklichen Menschen, die ihrer Arbeit auf den Feldern nachgingen. Dann wollte sie raus aus diesem Eisverlies, nichts wie raus, um ebenso Lektionen zu geben wie Kisi. Wie Kisi wollte sie den Menschen davon berichten, wie einfach, schön und edel das Dasein als afrikanischer Kleinbauer war. Sie wollte Vorträge halten. Auf Plätzen vor anderen Menschen reden, reden, reden. Sie hatte seit Tagen, seit Wochen, seit Monaten, seit Jahren, seit sie in diese Wolke des Jetzt irgendwann einmal eingetaucht war, mit niemandem mehr gesprochen als mit Kisi. Und mit sich selbst. Mit Natalija. Das war doch ihr Name, oder?
    Sie setzte sich auf ihrem Fell auf. Sie kniff die Augen zusammen, um besser nachdenken zu können. Natalija. So hieß sie. Das wusste sie noch, alles andere war weg. Sie ahnte, dass sich das russisch anhörte. Aber was bedeutete das? Russisch? Russland – ja, es gab ein Land, das so hieß. Doch wie sah es dort aus? Sie würde Kisi fragen. Die würde es ihr sagen. Kisi konnte ihr alles sagen. Sie war ein Quell unendlichen Wissens.
    War Kisi ihre Mutter? Auch das würde sie fragen. Kisi konnte ihr sicher auch sagen, wer der Vater des Kindes war, das in ihrem Bauch heranwuchs. Sie freute sich auf die nächste Lektion. Wenn Kisi doch nur schon da wäre.
    Sie legte sich wieder auf ihr Bett aus Eis und zog sich das Fell eng um den Körper. Es war schön hier. Du hast Glück in deinen Leben, Natalija. Du bist in dieses weiße Jetzt hineingeboren worden. Durch das es von Zeit zu Zeit blau schimmerte, bevor es wieder grau wurde. Und dann wieder weiß und blau. Und in dem das Wasser lief. Sie hörte es ständig gluckern. Sie wusste, es floss, tropfte, gluckste und würde nie damit aufhören. Sie befand sich an einem himmlischen Ort. Sie war – warum hatte Kisi ihr das nie gesagt? – ein Engel!
    Aber natürlich. Kisi war die Göttin der Erde, des Himmels, des Wassers, des Eises. Und sie, Natalija, war ihr Engel. Ein Erzengel. Eine Auserwählte! Warum hatte Kisi, die Göttin, es ihr nie gesagt? Weil sie selbst darauf hatte kommen müssen. Sie kicherte in sich hinein. Wie klug Kisi doch war. Wie weise. Sie ließ Natalija die Wahrheit selbst erkennen.
    Nur was wir selbst erkennen, können wir auch glauben. Nur was wir glauben, von ganzem Herzen glauben, können wir weitertragen.
    Was für ein Glück, dass sie in dieses Jetzt, in dieses Nichts und dieses Alles geboren worden war. Und dass sie ein Kind in sich trug, das ebenfalls in dieses

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