Bluternte: Thriller
Sekunden nachdem Harry und Evi bei den Fletchers angeklopft hatten, hier aufgetaucht war. Sie war Anfang dreißig, eher rundlich und hatte ausladende Brüste, die in einen engen, tief ausgeschnittenen Pullover gepresst waren. Eine lange, einreihige Kette hing über ihren Brustkorb und betonte die Tiefe ihres Dekolletés. Seit fast zwanzig Minuten wartete Evi jetzt schon darauf, dass Harrys Blick sich dorthin verirrte. Bis jetzt hatte er es geschafft zu widerstehen.
»Die Hausschlüssel von Alices Mann waren weg«, gab Harry zu bedenken.
»Schlüssel verschwinden andauernd«, entgegnete Hannah. »Sie werden schon ein bisschen mehr brauchen als das, um eine versuchte Kindsentführung zu beweisen.«
»Und was ist mit zwei nicht identifizierten Leichen in der Pathologie vom Burnley General Hospital?«, gab Harry zurück. »Bitte entschuldigen Sie, dass ich so deutlich werde, Alice.«
Alice zuckte die Schultern und warf einen raschen Blick zu Evi hinüber. Diese lächelte gequält; ihr war klar, dass sie versuchen sollte, Harry ein wenig zu bremsen. Besuch vom Sozialamt war das übliche Vorgehen bei Ereignissen, bei denen die Polizei eingeschaltet worden war und man Kinder für gefährdet hielt. Wenn Harry diese Frau wütend machte, konnte das Ganze zu etwas Persönlichem werden. Hannah Wilson würde vielleicht anfangen, ihrerseits aufzutrumpfen, und die Fletchers würden sich zwischen den Fronten wiederfinden.
»Also, im Augenblick wissen wir noch gar nicht, ob das, weswegen die Polizei da draußen ermittelt, irgendetwas mit dieser Familie zu tun hat«, sagte Hannah. »Mir geht es nur um das Wohlergehen der Kinder.«
»Mir auch«, unterbrach Alice sie.
»Und Sie müssen zugeben, Toms Geschichte hat einige Schwachstellen.« Die Sozialarbeiterin blickte erst Harry, dann Alice und dann Evi an, als wolle sie sie herausfordern, ihr zu widersprechen. »Tom hat ziemlich schlimme blaue Flecke im Gesicht. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Mrs. Fletcher, dann sagt er, die hat er sich geholt, als das Mädchen, das mit seiner Schwester weglaufen wollte, ihn getreten hat.«
»So hat er es mir erzählt.«
»Aber nach dem, was ich seinen früheren Beschreibungen des Mädchens entnehmen kann, trägt sie gar keine Schuhe.«
Niemand sagte etwas. Evi senkte den Blick auf den Küchentisch, während sie sich mental dafür ohrfeigte, nicht als Erste darauf gekommen zu sein. Wieder öffnete sich die Küchentür. Diesmal war es Tom. Die dunkelviolette Prellung auf seinem Wangenknochen hob sich deutlich von der blassen Haut ab.
»Mum, Millie hat ihren Saft aufs Sofa gekippt«, meldete er. Alice seufzte und machte Anstalten aufzustehen.
»Ich mach’ das schon«, erbot sich Evi. Sie erhob sich und griff nach einem Geschirrtuch. »Machen Sie ruhig hier weiter, Alice. Mrs. Wilson ist bestimmt fast fertig.«
Evi folgte Tom ins Wohnzimmer. Über sich konnte sie schwere Schritte hören. Menschen unterhielten sich mit gedämpften Stimmen.
Joe war am anderen Ende des Zimmers und spähte zwischen den zugezogenen Vorhängen hindurch, um zu sehen, was draußen im Garten passierte. Millie, die in einer Jeanslatzhose mit aufgekrempelten Beinen unglaublich niedlich aussah, winkte ihm mit einem Stück Anmachholz zu und wäre beinahe rücklings in den leeren Kamin gekippt. Tom sprang vor und bekam sie zu fassen, ehe sie sich den Kopf anstoßen konnte.
»Hi, Süße«, sagte Evi, als die Zweijährige wieder sicher auf beiden Beinen stand. Die Kleine schien geweint zu haben. Die Haut um ihre Augen herum sah rot und wund aus. »Wo ist denn der Klebesaft?«, erkundigte sich Evi.
»Daah.« Millie zeigte auf die Mitte des Sofas. Evi fand den Saftfleck und wischte das Sofa mit dem feuchten Küchentuch ab. Sie konnte Toms Blick fühlen.
»Wie geht’s dir jetzt, Tom?«, erkundigte sie sich. »Immer noch müde?«
Tom zuckte die Achseln. »Wer ist denn die Frau?«, wollte er wissen. »Ist die auch Ärztin, so wie Sie?«
Evi schüttelte den Kopf. »Nein, sie ist Sozialarbeiterin. Sie ist hier, um herauszufinden, was gestern Nacht passiert ist, und um dafür zu sorgen, dass mit dir und Joe und Millie alles okay ist.«
»Muss ich mit der reden?«
Evi hockte sich auf die Armlehne des Sofas. »Möchtest du mit ihr reden?«, fragte sie.
Tom dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf.
»Warum nicht?« Evi bemerkte, dass Millie die Unterhaltung genau verfolgte. Ihr Blick wanderte von einem Sprecher zum anderen, als verstünde sie jedes Wort. Drüben
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