Bluternte: Thriller
scrollte zu den Krankenberichten aus Gillians Kindheit zurück. Sie hatte die üblichen Impfungen bekommen, mit drei Jahren hatte sie Windpocken gehabt. Kurz nach dem Unfalltod ihres Vaters war sie beim Arzt gewesen, doch es waren keinerlei Medikamente oder weitere Behandlungen verordnet worden.
Mit neun hatte Gillian den Hausarzt gewechselt. Wahrscheinlich hing das mit der erneuten Heirat ihrer Mutter zusammen und damit, dass die Familie aus Heptonclough weggezogen war. Um diese Zeit war Gillian häufiger bei ihrem Arzt vorstellig geworden. Oft hatte sie über unspezifische Bauchschmerzen geklagt, wegen denen sie ein paar Tage die Schule versäumte, doch die Untersuchungen hatten keinerlei Befund ergeben. Außerdem war eine Reihe kleinerer Verletzungen dokumentiert – ein gebrochenes Handgelenk, blaue Flecken und dergleichen. Das könnte auf Misshandlungen hindeuten. Oder es konnte einfach nur für ein lebhaftes Kind sprechen, das zu Missgeschicken neigte.
Als Gillian dreizehn gewesen war, waren sie und ihre Mutter wieder nach Heptonclough gezogen. Gillian hatte sehr jung die Pille verschrieben bekommen – ein paar Monate vor ihrem fünfzehnten Geburtstag – und hatte mit siebzehn einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen. Kein ideales Szenario, aber auch nicht untypisch für einen modernen Teenager.
Ach, Herrgott noch mal, sie hatte doch noch jede Menge andere Patienten. Evi erhob sich wieder und warf einen schnellen Blick zum Badezimmer hinüber. Die Tür war offen, und sie konnte das Schränkchen sehen.
Draußen war es vollständig dunkel. Ob oben in Heptonclough wohl gerade getanzt wurde? Evi hatte seit drei Jahren nicht mehr getanzt. Wahrscheinlich würde sie es auch nie wieder tun.
24
»Wir müssen die Kissen da rüberschieben!«, trieb Tom seinen Bruder an. »Hilf mir mal.« Auf Händen und Knien begannen er und Joe, die Matte aus Betkissen über den Boden zu schieben. Doch das ging nicht gut auf den unebenen Steinplatten; wenn die Kissen auf Buckel und Kerben stießen, rutschten sie auseinander.
»Halt sie zusammen!«, schrie Tom und wagte nicht, nach oben zu schauen, während er und Joe sich verzweifelt abmühten, die Kissen wieder zusammenzuschieben. Er hatte keine Ahnung, ob sie sich unter Millie befanden oder nicht, er traute sich einfach nicht hochzuschauen, weil er genau wusste, wenn er das tat, würde er den Körper seiner Schwester auf sich zustürzen sehen.
»Scheiße, wie is’n die da raufgekomm’?«, fragte eine Stimme am anderen Ende der Kirche. Tom blickte auf und sah, dass Jake Knowles und Billy Aspin lautlos in die Kirche getreten waren. Beide starrten wie gebannt zu dem Vikar und dem kleinen Mädchen hinauf.
Harry kam Millie immer näher, die sich noch immer an das Emporengeländer klammerte. Irgendetwas traf Tom ins Gesicht, und er sah sich um. Jake und Billy waren drei Bankreihen entfernt, sie rafften Betkissen zusammen und warfen sie ihm zu.
»Das is’ doch kilometerweit daneben, Arschgesicht«, rief Jake. Er sah Tom unverwandt in die Augen, doch sein zeigender Finger richtete sich von der Empore weg auf den Boden. »Ungefähr so’n Stück nach da.«
Er hatte recht. Tom begann, die Kissen nach links zu verschieben, während Joe sich alle Mühe gab, sie zusammenzuhalten. Billy schloss sich ihnen an und fing an, eine zweite Lage auf die Matte zu packen, während Jake weiter Betkissen wie Geschosse durch die Luft feuerte.
Dann hörte Tom ein Poltern über sich und würgte den Schrei gerade eben noch ab, ehe er seinem Mund entschlüpfte. Billy, Jake und Joe schauten alle nach oben. Harry war auf der Empore und redete leise auf Millie ein, während er langsam auf sie zuging. Er war noch ungefähr fünf Schritte entfernt … noch vier … drei … Tom hielt den Atem an. Harry streckte die Arme aus. Tom schloss die Augen.
»Er hat sie«, meldete Jake. Tom stieß die Luft aus, während seine Augen sich öffneten. Vor ihm lag keine tote, blutende Schwester auf dem Boden. Es war vorbei. Jake betrachtete die Betkissen, die auf den Steinplatten verstreut waren.
»Die müssen wir jetzt wohl alle wieder zurücktun«, brummte er.
»Jungs.« Das war Harrys Stimme von oben; sie klang, als wäre er gerade ein Wettrennen gelaufen. »Millie und ich können hier erst runter, wenn wir den Schlüssel zu der Tür da auftreiben. Kann mal jemand in der Sakristei nachschauen?«
Einen Augenblick lang wusste Tom nicht mehr, wo die Sakristei war. Im vorderen Teil der Kirche, dachte
Weitere Kostenlose Bücher