Bluternte: Thriller
ob er mit zu mir kommen will, auf einen Kaffee.«
Evis Hand griff wieder nach dem Glas. »Und was hat er gesagt?«
»Also, ich war ganz sicher, dass er ja sagt, aber dann sind ein paar Leute um die Ecke gekommen, deshalb hat er nur gemeint, er muss sich vergewissern, dass die Kirche abgeschlossen ist, und ist gegangen, den Hügel rauf. Mir war natürlich klar, dass er wollte, dass ich nachkomme, also habe ich ein paar Minuten gewartet und bin dann auch zur Kirche raufgegangen.«
»Gillian …«
»Was denn?«
»Nun ja, es ist nur … Vikare müssen sich nach einem gewissen Kodex richten.«
Gillian sah sie verständnislos an.
»Sie müssen bestimmte Verhaltensregeln befolgen«, versuchte Evi es noch einmal. »Und eine junge Frau, die er kaum kennt, aufzufordern, nachts mit in eine Kirche zu kommen … also, allzu verantwortungsbewusst kommt mir das nicht vor. Sind Sie sicher, dass er das so gemeint hat?«
Gillian zuckte die Achseln. »Männer sind Männer«, sagte sie. »Er trägt ja vielleicht so einen Priesterkragen, aber er hat doch trotzdem einen Schwanz in der Hose.«
Evi griff abermals nach dem Glas. Es war leer.
»Entschuldigen Sie«, sagte sie, als sie ihrer Stimme wieder einigermaßen traute. »Wahrscheinlich finden Sie, dass ich mich in Dinge einmische, die mich nichts angehen. Wenn Sie nicht bereit sind, darüber zu reden, dann ist das in Ordnung. Schlafen Sie immer noch gut?«
»Sie glauben, ein Vikar würde sich nicht für jemanden wie mich interessieren?«, fragte Gillian. Die Falten in ihrem Gesicht schienen härter geworden zu sein. Der Lippenstift, den sie aufgelegt hatte, war zu dunkel für sie.
»Nein, so habe ich das nicht gemeint.«
»Und warum hat er mich dann geküsst?«
Evi holte tief Luft. »Gillian, das Einzige, worum es geht, ist, ob Sie bereit sind, sich wieder mit jemandem einzulassen. Sie haben sehr schweren emotionalen Schaden genommen.«
Er hatte sie geküsst?
Die junge Frau hatte sich wieder in ihren Sessel verkrochen. Sie schien Evi nicht mehr ansehen zu können.
»Mögen Sie ihn wirklich gern?«, fragte Evi leise.
Gillian nickte, ohne aufzublicken. »Es klingt blöd«, sagte sie an den Teppich unter ihren Füßen gewandt, »weil, ich kenne ihn doch kaum, aber irgendwie ist es, als wäre er mir echt wichtig. Als ich in die Kirche gekommen bin, hat er einfach in der vordersten Bank gesessen. Ich bin hingegangen und habe mich neben ihn gesetzt und meine Hand auf seine gelegt. Er hat seine nicht weggezogen. Er hat gesagt, was passiert ist, täte ihm wahnsinnig leid und dass es schrecklich für mich gewesen sein müsste, nach allem, was ich durchgemacht hätte.«
»Hört sich an, als wäre es für alle ziemlich schlimm gewesen«, bemerkte Evi. Zehn Minuten bis zum Ende der Sitzung. Eine winzige Zeitspanne im großen Weltgeschehen. Und doch zu lange, um die ganze Zeit ein Bild von Harry und dieser jungen Frau im Kopf zu haben, wie sie in einer spärlich beleuchteten Kirche Händchen hielten.
»Es war, als hätten wir so eine totale Verbindung zueinander«, sagte Gillian gerade. »Ich hatte das Gefühl, ich kann alles sagen. Also habe ich ihn das gefragt, was ich schon damals loswerden wollte, als ich ihm zum ersten Mal begegnet bin. Wie kann Gott unschuldigen Menschen wie Hayley etwas Schlimmes zustoßen lassen? Und Millie beinahe auch? Wenn Er allmächtig ist, wie die Leute sagen, warum passiert so was dann?«
Und ich, dachte Evi. Welcher Teil des Großen Plans hat mich zum Krüppel gemacht? Welcher Teil des Plans hat mir Harry weggeschnappt, gerade als … keine zehn Minuten mehr.
»Und, was hat er gesagt?«, erkundigte sie sich.
»Er hat angefangen, dieses Gebet aufzusagen. Das macht er oft, das ist mir schon aufgefallen. Irgendwas von wegen, Jesus hätte keine Hände oder Füße …«
»Keine Hände außer den unseren«, sagte Evi nach einem Augenblick des Schweigens.
»Genau. Kennen Sie das?«
»Ich bin katholisch erzogen worden«, erwiderte Evi. »Dieses Gebet wurde im 16. Jahrhundert von der Heiligen Teresa verfasst. ›Jesus hat jetzt keinen anderen Leib als unseren, keine Hände als die unseren, keine Füße als die unseren.‹ Das bedeutet, dass alles, was hier auf Erden geschieht – alles Gute und auch alles Schlechte –, an uns liegt.«
»Ja, das hat Harry auch gesagt«, meinte Gillian. »Er hat gesagt, jetzt ist es an uns. Er hat gesagt, Gott hätte einen großen Plan, da wäre er sich ganz sicher, aber dass das ein sehr allgemeiner Plan sei, und
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