Bluternte: Thriller
er. Er drehte sich um und blieb wie angewurzelt stehen. Blinzelte und schaute abermals hin. Da war nichts. Doch einen Moment war er sich sicher gewesen. Auf der einen Seite der Orgel, den dürren Körper gegen die Pfeifen geschmiegt, hatte jemand gestanden und sie beobachtet. Ein Mädchen.
25
Sie verließen den Friedhof: der Mann, der jetzt für die Kirche zuständig zu sein schien, und Millies zwei Brüder. Und die Mutter auch. Nicht Millies Mutter, die rannte noch immer im Garten der Familie umher, schrie und machte einen Riesenwirbel. Nein, es war die andere Mutter, die, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war, gerade als die Kinder und der Mann aus der Kirche gekommen waren. Sie trug Millie auf dem Arm, als sie alle den Hügel hinabgingen.
Millies Eltern hatten sie gesehen. Sie rannten auf die Gruppe zu. Alle redeten durcheinander, schauten Millie genau an, tätschelten ihr den Kopf, drückten sie an sich. Sie hatten Angst gehabt, sie hatten gedacht, sie hätten sie verloren. Jetzt würden sie besser auf sie aufpassen. Eine Weile.
26
2. Oktober
»Zuerst, in den ersten paar Minuten, da war es, als wäre ich wieder mitten in dem alten Albtraum. Wissen Sie, was ich meine? Meine kleine Tochter war verschwunden, und ich musste sie finden. Ich musste rausgehen und auf dem Moor rumlaufen und immer wieder nach ihr rufen, bis ich sie gefunden hatte.«
»Gillian, es ist alles gut, lassen Sie sich Zeit.«
»Ich konnte gar nicht richtig denken. Ich wollte einfach nur losschreien.«
»Ich verstehe«, sagte Evi. »Das muss für alle furchtbar gewesen sein, aber ganz besonders für Sie.« Wieder hatte Gillian auf dem Moor gesucht: erst nach Megan, dann nach Hayley und jetzt nach … Millie, so hieß das Kind doch?
»War’s auch«, bestätigte Gillian.
»Lassen Sie sich Zeit«, wiederholte Evi. Sollte sie die Suche nach Megan ansprechen? Sie hatte noch nichts von ihrem Supervisor gehört.
»Aber dann war’s, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, und ich konnte wieder klar sehen. Mir war ja schon das Allerschlimmste passiert. Es gab nichts, wovor ich Angst haben musste, also hatte ich die besten Karten. Und ich kenne alle Verstecke rund ums Dorf. Da habe ich überall fast jeden Tag nachgeschaut, seit drei Jahren. Ich wusste, wenn einer sie finden kann, dann ich.«
Gillian war einkaufen gewesen, seit Evi sie zum letzten Mal gesehen hatte. Sie trug eine schwarze, anscheinend neue Hose und einen engen schwarzen Pullover. Ihre Haut wurde immer besser.
»Wir haben reichlich Zeit, Gillian«, versicherte Evi der jungen Frau. »Noch vierzig Minuten. Möchten Sie mir erzählen, was Sie gemacht haben?«
»Ich bin suchen gegangen«, antwortete Gillian. »Ganz allein, im Dunkeln, weil, das bin ich ja gewohnt. Ich bin die Wite Lane runter, an unserem alten Haus vorbei und über die Felder zum Morell Tor. Dann bin ich wieder zurück, weil ich in der Kirche Licht gesehen habe.«
»Das zeugt von großer Charakterstärke«, meinte Evi. »Dass Sie sich an der Suche beteiligen konnten, nach allem, was Sie durchgemacht haben.«
Gillian nickte, noch immer ganz aufgeregt. »Und es war wirklich ein tolles Gefühl, als ich Alice und Gareth gesehen habe, und ich hatte Millie auf dem Arm. Sie waren so dankbar und –«
»Sie haben die Kleine gefunden?«
»Ja – na ja, nein – nicht wirklich. Ich habe sie alle vier gefunden, wie sie gerade aus der Kirche gekommen sind. Sie waren alle total durch den Wind. Tom hat mit seinem Bruder rumgestritten, wegen irgendwelchen Mädchen. Ich habe Tom Millie abgenommen, weil ich Angst hatte, er lässt sie vielleicht fallen. Harry habe ich zuerst gar nicht bemerkt. Er hat an der Wand gelehnt, und in seinen schwarzen Klamotten war er ziemlich schlecht zu sehen.«
Evi griff nach dem Wasserglas auf ihrem Schreibtisch und merkte, dass sie gar keinen Durst hatte. Sie behielt das Glas in der Hand und ließ das Wasser darin kreisen. »Und die Kleine ist einfach weggelaufen und hat sich verirrt?«
»Um ehrlich zu sein, niemand weiß genau, was passiert ist. Millie ist noch zu klein, um es uns zu erzählen. Offiziell heißt es, dass sie ein paar größeren Kindern nachgelaufen ist, die von dem Fest weg sind, und dass sie dann gemerkt hat, dass sie nicht mithalten konnte.«
Das Glas lenkte Gillian ab. Evi zwang sich, es wieder hinzustellen. Auf dem Schreibtisch lag eine Büroklammer. Wenn sie die in die Hand nahm, würde sie anfangen, daran herumzubiegen. Das wäre auch eine
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