Bluternte: Thriller
für mich nehmen«, fing sie an. Er sagte nichts, neigte lediglich den Kopf.
Sie hielt ihm ein Blatt Papier hin. »Das hier muss ich Ihnen geben. Alice und Gareth Fletcher haben mich ermächtigt, mit Ihnen zu reden und so viel von ihrem Fall mit Ihnen zu besprechen, wie angebracht scheint.« Harry nahm das Blatt und betrachtete es. Die Brille blieb auf dem Schreibtisch liegen. Er war sowieso noch viel zu jung, um eine Lesebrille zu brauchen. Bestimmt hatte er sie nur um des Effekts willen. Gleich darauf legte er das Blatt weg und griff nach seinem Becher.
»Außerdem spreche ich auch mit mehreren Lehrern aus Toms und Joes Schule«, erklärte sie weiter. »Mit dem Direktor von Toms früherer Schule. Und mit dem Arzt der Fletchers. Das ist das normale Vorgehen, wenn man ein Kind behandelt.«
Sie wartete darauf, dass Harry antwortete. Er tat es nicht. »Kinder werden von ihrer Umgebung so stark beeinflusst, dass wir so viel wie möglich über ihr Umfeld wissen müssen«, fuhr sie fort. »Darüber, wie es sich auf ihr Leben auswirkt.«
»Ich mag die Fletchers wirklich sehr gern«, sagte Harry. »Ich hoffe, Sie können ihnen helfen.«
Er war so anders an diesem Vormittag. So ganz anders als der Mann, den sie kennengelernt hatte.
»Ich tue auf jeden Fall mein Bestes«, versicherte sie. »Aber es ist noch sehr früh. Das hier ist eigentlich bloß ein Erkundungsfeldzug.«
Harry stellte seinen Becher auf dem Schreibtisch hinter ihm ab. »Alles, was in meiner Macht steht«, sagte er, als er sich wieder umdrehte.
So kalt. Ein völlig anderer Mann. Er hatte nur dasselbe Gesicht. Egal, sie war beruflich hier.
»Tom ist von seinem Arzt zu mir überwiesen worden«, berichtete sie. »Er hatte extreme Angstzustände, Schwierigkeiten in der Schule, Schlafstörungen, hat sich aggressiv verhalten – sowohl in der Schule als auch daheim – und hatte möglicherweise sogar psychotische Episoden. Wenn man all das zusammennimmt, sind das bei einem Zehnjährigen sehr besorgniserregende Symptome.«
»Ich weiß, dass seine Eltern sich sehr große Sorgen machen«, sagte Harry. »Ich übrigens auch.«
»Ich weiß ja nicht, wie viel Sie von Psychiatrie verstehen, aber –«
»So gut wie gar nichts.«
Großer Gott, würde es ihn umbringen, mal zu lächeln? Glaubte er vielleicht, dies hier fiele ihr leicht?
»Normalerweise befasst man sich zuerst mit dem Kind und baut eine gewisse Beziehung zu ihm auf, wenn möglich sogar ein Vertrauensverhältnis. Wenn das Kind alt genug ist, was bei Tom der Fall ist, dann versuche ich, es dazu zu bringen, über seine Probleme zu reden. Mir zu sagen, warum es seiner Meinung nach zu mir geschickt worden ist, was ihm zu schaffen macht, wie man seiner Ansicht nach damit umgehen könnte.«
Sie verstummte. Harrys Blick war nicht von ihrem Gesicht gewichen, doch sie konnte in seiner Miene nichts lesen.
»Bei Tom hat das bisher nicht besonders gut geklappt«, sagte sie. »Er ist wirklich ziemlich geschickt darin, nur gerade eben so viel zu sagen, dass er damit durchkommt. Wenn ich versuche, ihn dazu zu kriegen, dass er über die verschiedenen Vorfälle spricht – zum Beispiel diese Sache mit diesem merkwürdigen Mädchen –, dann macht er vollkommen dicht. Behauptet, das sei alles nur ein böser Traum gewesen.«
Sie hielt inne. Harry bedeutete ihr mit einem Kopfnicken weiterzusprechen.
»Dann versuche ich, den Rest der Familie einzubeziehen«, fuhr sie fort. »Ich beobachte, wie sie miteinander interagieren, versuche, Spannungen oder irgendwelche Anzeichen für Konflikte zu erkennen. Außerdem mache ich eine komplette Familienanamnese, sowohl medizinisch als auch sozial. Das Ziel ist, sich ein möglichst vollständiges Bild vom Leben der Familie zu machen.«
Wieder verstummte sie. Das hier war sogar noch schwerer, als sie erwartet hatte.
»Ich kann Ihnen folgen«, versicherte Harry. »Bitte machen Sie weiter.«
»Es wird immer eine medizinische Untersuchung durchgeführt, sowohl des überwiesenen Kindes als auch der Geschwister. Das mache ich nicht selbst, ich finde, das stört die Beziehung, die ich zu ihnen aufzubauen versuche, aber Tom, Joe und Millie sind alle von ihrem Hausarzt untersucht worden.«
Harry furchte die Stirn. »Dürfen Sie mir erzählen, was er gefunden hat?«, erkundigte er sich.
Evi zuckte die Achseln. »Sie sind gesund«, sagte sie. »Rein physisch sind es gesunde Kinder ohne signifikante medizinische Probleme. Alle drei entwickeln sich völlig normal. Ich habe selbst
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