Bluternte: Thriller
ein paar Tests mit den dreien gemacht. Wenn überhaupt, dann sind Joe und Tom, was Sprache, kognitive Fähigkeiten und Allgemeinwissen betrifft, für ihr Alter sogar außerordentlich weit. Beide scheinen überdurchschnittlich intelligent zu sein. Deckt sich das mit dem, was Sie beobachtet haben?«
»Vollkommen«, bestätigte Harry ohne Zögern. »Es sind kluge, witzige, normale Kinder. Ich mag die drei sehr.«
Die Fletchers waren seine Freunde. Er würde nicht völlig objektiv sein können. Auch sein Vertrauen würde sie erst gewinnen müssen.
»Außerdem ist es vielleicht erwähnenswert, dass der Hausarzt bei keinem der Kinder irgendwelche Hinweise auf Misshandlungen gefunden hat. Weder körperlicher noch sexueller Natur. Natürlich können wir so etwas nicht vollständig ausschließen, aber …«
Er starrte sie finster an. Vielleicht brauchte er mal einen Augenöffner.
»Wenn ein Kind so verstört ist, wie es bei Tom der Fall zu sein scheint, wäre es unverantwortlich, diese Möglichkeit außer Acht zu lassen.« Sie wusste, dass ihre Stimme härter geworden war. Irgendetwas in Harrys Augen flackerte als Antwort.
»Das meiner Meinung nach signifikanteste Merkmal an diesem Fall«, fuhr Evi fort und bemühte sich ganz bewusst, ihre Stimme tiefer und weicher klingen zu lassen, obwohl sie allmählich wütend auf ihn wurde, »ist, dass die Probleme der Familie anscheinend aufgetreten sind, nachdem sie hierhergezogen sind.«
Da war definitiv etwas in seinen Augen.
»Tom hat sich an seiner alten Schule hervorragend geführt«, berichtete sie. »Ich habe mit seinem damaligen Hausarzt gesprochen, mit seinem alten Fußballtrainer, sogar mit seinem früheren Pfadfinderführer. Alle haben mir ein normales, ausgeglichenes, glückliches Kind geschildert. Aber kaum zieht die Familie hierher, schlägt es ins Gegenteil um.«
Harry hatte die Augen niedergeschlagen. Jetzt starrte er den Fußboden an. Er sah mürrisch aus. Bildete er sich etwa ein, dass sie dachte, es wäre seine Schuld?
»Psychische Erkrankungen bei Kindern haben selten eine einzige klar erkennbare Ursache«, erklärte sie. »Alles, was mit dem neuen Umfeld der Fletchers zu tun hat, könnte der Auslöser gewesen sein, könnte irgendeinen nicht akuten Zustand in Tom aktiviert haben. Es wäre wirklich hilfreich zu wissen, was das für ein Auslöser war.«
»Und hier komme ich ins Spiel?«, fragte er und schaute auf.
»Ja«, sagte sie. »Sie sind auch neu hier. Wahrscheinlich ist es für Sie leichter, einen möglichen Katalysator zu erkennen, als für jeden anderen. Fällt Ihnen da irgendetwas ein?«
Harry ließ sich Zeit. Fiel ihm irgendetwas ein? Die Fletchers waren in ein Dorf gezogen, wo seit über zehn Jahren keine Neuankömmlinge mehr willkommen geheißen worden waren und wo rituelle Gemetzel als Ausrede für ein ordentliches Besäufnis galten. Wo Geflüster aus dem Nichts gehuscht kam. Und wo jemand Schweineblut in einen Abendmahlkelch goss. Ob ihm etwas einfiel? Würde er überhaupt wieder aufhören können?
»Das hier ist ein ungewöhnliches Dorf«, meinte er schließlich. »Die Leute hier haben ihre ganz eigene Art und Weise, die Dinge anzugehen.«
»Können Sie mir ein paar Beispiele geben?« Evi hatte einen kleinen Notizblock aufgeklappt und hielt einen Bleistift in der linken Hand. Das Haar auf der rechten Kopfseite war hinters Ohr geschoben worden. So ein kleines Ohr. Mit einem Rubinstecker.
»An meinem ersten Tag hier habe ich gesehen, wie die beiden Jungen von einer Bande aus dem Ort bedroht wurden«, sagte er. »Von Jungs, die ein bisschen älter waren. Ein paar waren Teenager.«
»Auf Fahrrädern?«, erkundigte sie sich rasch.
Verdutzt schüttelte Harry den Kopf. »Damals nicht. Aber seither habe ich einen oder zwei von denen auf Fahrrädern herumflitzen sehen. Die können wirklich schnell sein, wenn sie’s drauf anlegen. Und wendig sind sie auch. Ich bin sicher, dass ich Gestalten in der Abteiruine habe herumklettern sehen, sogar auf dem Kirchendach. Es lässt sich nicht beweisen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die für das verantwortlich sind, was vor ein paar Wochen mit Millie Fletcher passiert ist.«
»Und die haben damals auch Tom und Joe bedroht?«
Harry nickte. »Sie haben ein Kirchenfenster eingeschmissen und versucht, es den beiden anzuhängen.«
»Das wäre nicht das erste Mal, dass sich eine eingeschworene Gemeinschaft gegen Außenseiter stellt«, meinte Evi. »Wie sind die Leute hier denn Ihnen
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