Bluternte: Thriller
dagegen, verstopfte seine Luftröhre, als er die Mitte des Altarplatzes erreichte und sich umwandte, um den Mittelgang hinunterzublicken. Er war darauf vorbereitet, einen Schock zu erleben. Nur nicht so einen Schock. Er war nicht darauf vorbereitet, ein kleines Kind zerschellt unter der Empore liegen zu sehen.
Millie Fletcher! Er hatte sie in diesem Pullover gesehen.
Ein paar Sekunden lang war es unmöglich, etwas anderes zu tun, als wie gebannt zu starren. Jetzt drang überhaupt keine Luft mehr in seinen Körper. Gleich würde sich alles in seinem Kopf drehen. Er ging vorwärts, klammerte sich an die Enden der Bänke wie ein Kleinkind, das noch nicht sicher auf den Beinen ist. Als er die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, wurde ihm klar, dass er vor Erleichterung zitterte, nicht vor Angst. Und er atmete auch wieder. Nicht Millie, Gott sei Dank, Gott sei Dank, das konnte nicht Millie sein – oder irgendein anderes echtes Kind –, denn kein einziger Teil eines Kinderkörpers bestand aus Gemüse. Oh, Gott sei Dank.
Eine Steckrübe, auf der noch immer ein grob gemaltes Kindergesicht prangte, war auf den Steinplatten zerborsten. Das Weidengerüst der Figur war in Stücke gegangen. Es war der kleinste der Knochenmänner, der hier hereingeschafft worden war und dem man Millies Pullover angezogen hatte. Das Schaudern, das seinen Körper durchlief, fühlte sich allmählich weniger wie Erleichterung an und mehr wie Empörung. Die Botschaft konnte nicht eindeutiger sein. Das hier sollte Millie sein, sollte Millie zerschellt auf dem Kirchenboden zeigen, so wie es ihr um ein Haar am Abend des Erntefestes ergangen war, wie es Lucy Pickup vor ihr ergangen war. Was in Gottes Namen ging hier vor?
Als Harry zu der Puppe ging und sich hinhockte, fiel ihm ein, dass Gillian noch immer draußen im Auto auf ihn wartete. Aber er konnte die Figur unmöglich einfach hier liegen lassen. Unwillkürlich streckte er den Arm aus, um die Stücke zusammenzuklauben, und hielt gerade noch rechtzeitig inne.
Beweismaterial.
Rasch holte er einen großen schwarzen Müllsack und die Gummihandschuhe aus der Sakristei, die jemand von der Putztruppe liegen gelassen hatte. Er zog die Handschuhe über und sammelte die Stücke ein, einschließlich des rosa- und orangefarben gemusterten Pullovers. Dann schob er sie alle in den schwarzen Sack. Als er fertig war, knotete er ihn oben zu und erhob sich.
Er musste die Polizei verständigen. Jungenstreich oder nicht – Millie war zwei Jahre alt und schon einmal in echte Gefahr gebracht worden. Und außerdem ging noch immer irgendjemand in der Kirche ein und aus, neue Schlösser hin oder her.
Gillian fragte nicht, wieso er so lange gebraucht hatte. Sie schien es kaum mitbekommen zu haben. Harry drehte die Heizung voll auf und fuhr los, den Hügel hinunter. Es dauerte nur zwei Minuten, bis er vor dem Postamt des Ortes hielt, wo sich auch der Dorfladen befand. Gillian wohnte in der Wohnung darüber.
Sie hatte sich nicht gerührt. Auf ihrem Schoß umklammerte sie ein kleines rosafarbenes Stofftier. Er schaltete den Motor aus und stieg aus.
»Gillian.« Er beugte sich ins Auto. Eigentlich wollte er sie nicht wieder anfassen, doch er ahnte, dass das unvermeidlich sein würde. »Sie sind zu Hause. Kommen Sie, ich bringe Sie rein.«
Sie rührte sich noch immer nicht. Harry schluckte seinen Ärger hinunter und legte ihr den Arm um die Schultern. Sie folgte willig und lehnte sich an ihn, als sie ungeschickt aus dem Wagen rutschte. Als sie die Straße überquerten, bemerkte Harry zwei Frauen, die sie beobachteten.
Die Haustür war nicht abgeschlossen. Er nahm Gillian bei der Hand und zog sie die schmale Treppe mit dem schmutzigen Teppich hinauf. Oben angekommen wandte er sich zu ihr um. »Schlüssel?« Sie zuckte die Achseln.
Er drückte gegen die Tür, und sie schwang in einem Dunstschwall auf. Ungewaschene Wäsche und abgestandene Luft. Entweder war es in der Wohnung nicht viel wärmer als draußen, oder er war auf dem besten Wege, sich zu erkälten.
Er lotste Gillian zum Sofa und ging rasch zum Heizofen hinüber. Nachdem er ihn voll aufgedreht hatte, wandte er sich wieder nach der jungen Frau um. Sie saß auf der Sofakante und starrte die Wand an. Das Stofftier in ihren Händen war ein Kaninchen.
»Gillian, Sie brauchen eine Decke. Wo finde ich eine?«
Sie antwortete nicht, und er drehte sich weg. Wenn sie ihm ins Gesicht blickte, würde sie sehen, wie wütend er war. Wütend auf sie, wütend auf
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