Bluternte: Thriller
Mann Mitte siebzig, kam auf ihn zu. Seine Frau, seine Eltern und zwei Brüder lagen auf dem Friedhof begraben, das hatte er Harry vorhin erzählt.
»Ich bin ein Mann mit vielen Talenten, Mr. Hargreaves«, antwortete Harry und stützte sich gegen die Kirchenwand, um seine Wadenmuskeln zu dehnen.
»Sie woll’n doch wohl nich’ rauf auf’s Moor, oder, Junge? Bei dem Wind flieg’n Sie ja weg.«
»Ich hab’ gar nich’ gewusst, dass Vikare Beine ha’m«, gluckste eine Frau, die hinter Stanley Hargreaves angehumpelt kam.
»Gesunder Körper, gesunde Seele, Mrs. Hawthorn«, erwiderte Harry. »Tut mir leid, dass ich Ihnen kein schöneres Paar zu bieten habe.«
Langsam joggte er an den beiden alten Leuten vorbei. Als er den Kirchhof verließ, sah er, wie Alice Millie zum Auto der Fletchers trug. Er sollte wirklich kurz ein paar Worte mit ihr wechseln. Er lief los und sah, dass Alice sich mit der Frau mit dem gefärbten roten Haar unterhielt, die nach Gillian aus der Kirche gekommen war.
»So hübsch«, meinte die Frau gerade und streckte die Hand aus, um Millies Locken zu berühren. »So eine hatte ich auch mal. Bricht mir das Herz, wenn ich die Kleine sehe.«
Millie bog sich von der Frau weg und verbarg das Gesicht an der Schulter ihrer Mutter, gerade als Alice Harry erblickte. Langsam kam er näher. Er wollte nicht stören, und er war sich nicht sicher, wie willkommen er sein würde.
»Sie werden so schnell groß«, meinte Alice.
»Meine ist nie groß geworden«, erwiderte die Frau. Da sie nicht mehr an das Gesicht des Kindes herankam, tätschelte sie ihm die Schulter. »Passen Sie bloß gut auf die Kleine auf. Man weiß gar nicht, wie kostbar sie sind, bis man sie verloren hat.«
Alice gab den Versuch auf zu lächeln.
»Ja, bestimmt«, sagte sie. »Also dann, da ist der Vikar. Ich muss schnell Hallo sagen. Es war nett, Sie kennenzulernen.« Die Frau nickte Alice zu, streichelte Millie noch ein letztes Mal den Kopf und ging den Hügel hinunter.
»Keine Ahnung, wer diese Frohnatur war«, sagte Alice leise, als Harry näher kam. Er sah der Frau kurz nach und schüttelte den Kopf. »Sie war eben in der Kirche«, sagte er, »aber ich habe sie vorher noch nie gesehen. Hören Sie, wegen gestern Abend …«
Alice hob abwehrend die Hand. »Nein, es tut mir leid. Ich verstehe wirklich, wie schwierig das für Sie ist. Es ist nur …« Sie stockte. »Ich denke immer, dass mit Tom irgendetwas nicht stimmt, ich kann nicht anders.«
Sie beugte sich ins Auto und setzte Millie in ihren Kindersitz, dann schnallte sie ihre Tochter an. Harry schob sich dichter an den Wagen heran, in der Hoffnung, er würde ein bisschen Schutz bieten. Der eiskalte Wind pfiff ihm in die Shorts. »Das bezweifle ich wirklich«, erwiderte er. »Und wenn Sie sich aufregen, hilft ihm das auch nicht.«
»Genau das hat Evi auch gesagt.«
Harry konnte nicht stehen bleiben. Seine Beine begannen allmählich zu zittern, und er hatte Schmerzen in der Brust, doch sobald er aufhörte zu laufen, würde der Schweiß an seinem Körper abkühlen.
Er befand sich drei Kilometer oberhalb des Dorfes. Zehn Minuten nachdem er losgelaufen war, hatte er einen alten Reitweg gefunden und war ihm bis zur Straße gefolgt. Er war bergauf getrabt, immer höher, bis der Wind ihn fast von den Füßen hob. Jetzt war er auf dem Heimweg.
Die Mauern und Hecken boten ein wenig Schutz, doch wenn der Wind ihn mit voller Wucht traf, fühlte es sich fast so an, als käme er überhaupt nicht mehr von der Stelle. Die Schweißbänder an seinen Handgelenken waren klatschnass, und die kalte Luft schmerzte in seiner Lunge. Das hier war blanker Irrsinn. Nicht einmal die Aussicht konnte er genießen – seine Augen tränten so sehr, dass er kaum den Boden vor seinen Füßen sehen konnte.
Hoch über den Bäumen im Osten ragte der mächtige Morell Tor auf, eine gewaltige Anhäufung von Sandsteinblöcken, in unsicherem Gleichgewicht übereinander getürmt. Solche Tors, die natürlichen Ursprungs waren, von denen man aber einst geglaubt hatte, sie wären von Menschen errichtet worden, waren in den Pennines recht häufig. Der Morrell Tor, so hatte Harry erfahren, war in dieser Gegend berüchtigt. Der Legende nach waren dort in den alten Zeiten ungewollte und unehelich geborene Babys hinuntergeworfen worden, um auf den Felsen zu zerschellen und von den Wölfen fortgeschleppt zu werden. In der heutigen Zeit stellte er ein erhebliches Problem für Schafzüchter dar, die alles Mögliche
Weitere Kostenlose Bücher