Bluternte: Thriller
gelebt haben. Ich hab das alles nie geglaubt, aber jetzt glaube ich es. Sie war heute hier. Sie hat das Stofftier genommen, das rosa Kaninchen, und es in unser altes Haus gelegt. Ich habe es gerade gefunden, da, wo früher der Kamin in der Küche war.«
»Gillian …«
»Sie spricht die ganze Zeit mit mir. Ich höre eine Stimme, die ruft ›Mummy, Mummy, hilf mir‹. Es ist egal, wo ich bin. Hier drin, wenn ich schlafe, draußen auf dem Moor, sie ist immer da, spricht immer mit mir. ›Mummy, Mummy‹, sagt sie, ›such mich‹. Sie stellt Sachen um, hier in der Wohnung, hinterlässt mir kleine Geschenke. Jedes Mal, wenn ich mich umdrehe, jedes Mal, wenn ich nachts aufwache, dann denke ich, sie wird da sein, so wie letztes Mal. Ich hab’ sie gesehen, in ihrem Beatrix-Potter-Schlafanzug.«
Harry merkte, dass er zitterte.
»Sie ist jeden Tag bei mir. Sie macht mich wahnsinnig.«
»Gillian, Sie wissen doch, dass es keine Geister gibt, nicht wahr?«
Es klopfte laut an die Haustür.
»Setzen Sie sich hin«, wies er sie an. »Ich gehe nachschauen, wer das ist.« Noch immer hielt sie seine Hand, umklammerte sie und wollte nicht loslassen. Doch Harry strebte auf die Tür zu, und ihr blieb nichts anderes übrig. Heilfroh, nicht mehr in ihrer Nähe zu sein, eilte er die Treppe hinunter und riss die Tür auf. Die Frau mit dem rot gefärbten Haar stand draußen.
»Reverend.« Grüßend neigte sie den Kopf und trat vor; ganz offensichtlich erwartete sie, dass er sie hereinließ. »Edith Holcome hat mich angerufen«, sagte sie. »Sie hat gesehen, wie Sie Gillian nach Hause gebracht haben. Hat gesagt, ich sollte wahrscheinlich herkommen.« Wieder trat sie einen Schritt vor.
»Sind Sie eine Freundin von Gillian?«, erkundigte sich Harry. War etwa doch noch Verstärkung eingetroffen?
»Ich bin ihre Mutter. Gwen Bannister. Nett, Sie kennenzulernen, Reverend. Machen Sie sich keine Sorgen mehr, ich kümmere mich jetzt um sie.«
Ihre Mutter? Oh, dem Himmel sei Dank.
»Na ja, wenn Sie meinen …« Hatte er irgendetwas oben liegen gelassen? War das wichtig? Steckten seine Schlüssel in seiner Tasche? Ja.
»Sie ist völlig aufgelöst«, erklärte er. Er wollte nicht, dass irgendjemand unvorbereitet diese Treppe hinaufging. »Ich glaube, sie braucht vielleicht einen Arzt.«
»Ich weiß, ich weiß, das hab’ ich alles schon erlebt.« Die Frau hatte sich an ihm vorbeigedrängt und war schon halb die Treppe hinaufgestiegen. »Ich hab’ auch ein Kind verloren, und bin ich deshalb so ein Häuflein Elend geworden? Zu meiner Zeit hatten wir mehr Rückgrat.«
Konnte er einfach gehen? Und wie er das konnte.
Ohne zurückzuschauen, schlüpfte er zur Tür hinaus und rannte über die Straße zu seinem Auto. Seinen Mantel hatte er zurückgelassen, doch auf den verzichtete er gerne. Er sah auf die Uhr. Wenn er fuhr, als wären ihm sämtliche Teufel der Hölle auf den Fersen, und nur für eine Minute unter die Dusche sprang, würde er immer noch zwanzig Minuten zu spät kommen. Er durfte wirklich keine Zeit mehr verschwenden.
Warum griff er also nach seinem Handy?
Duchess’ Hufe klapperten auf dem Beton im Hof des Reitstalls, als Evis Handy zu klingeln begann. Sie griff in die Jackentasche und schaute rasch auf das Display. Oh!
»Evi Oliver«, meldete sie sich, während Duchess sich sachte auf ihre Box zuschob.
»Hi, hier ist Harry Laycock«, sagte die Stimme am Telefon. Sie hatte gewusst, wer es war. Sein Name war auf dem Display erschienen. Nur das eine Wort: Harry.
»Oh, hallo.« War das richtig – freundlich, aber mit einem leichten Unterton der Überraschung? »Wie geht es Ihnen?«
»Gut«, antwortete er. »Ich bin ein bisschen in Eile. Hören Sie, ich habe nachgedacht. Diese Freudenfeuersache. Ich finde, Sie sollten da hingehen. Ich meine, mitkommen. Mit mir.«
Er fragte sie, ob sie mit ihm ausgehen wollte. Oder? »Sie haben doch gesagt, Sie gehen da auf keinen Fall hin«, erwiderte sie.
»Ich hab’s mir anders überlegt. Hier geht irgendetwas vor, was nicht ganz normal ist, Evi, und ich muss wissen, was es ist. Und wenn Sie wirklich herausfinden wollen, was Tom Fletcher zu schaffen macht, dann müssen Sie das wohl auch herausfinden.«
Sie könnte sich mit ihm treffen? Heute Abend? »Ich weiß nicht recht, Harry«, meinte sie. »Das erscheint mir ein bisschen …«
»Ich könnte Sie um halb sieben abholen und Sie hinfahren. Ihnen auf den holprigen Wegen helfen. Nicht dass Sie Hilfe brauchen, das ist mir vollkommen
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