Bluternte: Thriller
durch den Garten gerannt, eine Hand schützend über der Kamera. Nachdem seine Mutter die nötige Standpauke abgelassen hatte, hatte Tom ihr erzählt, er hätte für ein Schulprojekt Fotos vom Sonnenuntergang gemacht. Damit war sie anscheinend zufrieden gewesen. Er auch. Die zwanzig Minuten waren nicht umsonst gewesen. Oh nein. Ganz und gar nicht umsonst.
Als sie die Hügelkuppe erreichten, spürte Harry, dass Evi langsam müde wurde. Sie war weniger gesprächig, und ihre Schritte waren merklich langsamer geworden. Warum hatte sie sich nicht von ihm herfahren lassen? Und würde sie ihm den Kopf abreißen, wenn er vorschlug, dass sie sich einen Moment ausruhen sollten?
»Können wir uns einen Moment hinsetzen?«, fragte Evi.
Absolut hinreißend und störrisch wie ein Maultier. Sie würde ihm so viele Schwierigkeiten machen. Er hatte eigentlich überhaupt keinen Grund, so glücklich zu sein. Sanft lenkte er sie zu der Schäferbank hinüber, und sie nahmen gemeinsam Platz. Die meisten Dorfbewohner waren bereits in die Wite Lane eingebogen. Er konnte das Zischen der Flammen und das Knistern des Feuers hören und einen schwachen orangeroten Schein über den Häusern erkennen. Als er sich umdrehte, um den Hügel hinaufzublicken, sah er, dass die Knochenmänner samt und sonders von der Klosterruine entfernt worden waren. Außer dem, den er vor ein paar Stunden Detective Chief Superintendent Rushton übergeben hatte. Der würde im Laufe der nächsten Tage auf Fingerabdrücke und weitere Hinweise untersucht werden. Er und Rushton waren sich einig gewesen, den Fletchers nichts zu sagen, bis sie mehr wussten.
»War Alice okay, als Sie mit ihr gesprochen haben?«, erkundigte Harry sich. Sein hektischer Tag war munter weitergegangen, und er hatte nicht ans Handy gehen können, als Evi ihn vorhin angerufen hatte. Eine kurze Nachricht hatte ihn wissen lassen, wo er sie abholen sollte.
»Ja, es schien alles in Ordnung zu sein.« Evi atmete noch immer schwer. Ihre Wangen waren gerötet. »Sie schien sich ziemlich sicher zu sein, dass die Kinder alle zu dem Feuer gehen wollten. Tom interessiert sich seit Neuestem anscheinend sehr fürs Fotografieren und möchte ein paar gute Bilder machen. Und eine Freundin aus dem Ort hat ihr versprochen, dass dabei nichts Unheimliches passiert.«
»Es gibt schließlich für alles ein erstes Mal«, brummte Harry.
»Bitte?«
Er schüttelte den Kopf. »Nichts, erzählen Sie weiter.«
»Also haben wir beschlossen, dass es den Kindern bestimmt guttut, wenn sie gemeinsam etwas unternehmen, solange nichts passiert, was sie durcheinanderbringt oder ihnen Angst macht. Und dann hat sie darauf bestanden, dass ich mit Ihnen allen zu Abend esse. Sie ist wirklich lieb.«
»Nett, Sie mal mit einer jungen Lady zu sehen, Reverend.«
Harry wandte sich von Evi ab und erblickte drei alte Frauen, darunter die, die heute Vormittag seine Beine bewundert hatte. Mit einem boshaften Grinsen ließ sie den Blick von ihm zu Evi wandern. »Ich sag’s ja immer, Vikare sollten heiraten«, schloss sie. Das war kein Grinsen, es war ein lüsternes Feixen. Evi gab neben ihm ein leises, hämisches Kichern von sich, und er fühlte, wie seine Wangen glühten. Ein Glück, dass es dunkel war.
»Nein, nein, Mrs. Hawthorn«, wehrte er ab. »Dr. Oliver ist eine Kollegin. Alles rein beruflich.«
Minnie Hawthorns Freundinnen waren zu ihr getreten. Alle drei standen da und grinsten ihn an wie in einer Pantomimen-Version von Macbeth . Die Hexe Hawthorn musterte Evi, dann sah sie wieder Harry an. »Aye, mein Junge«, stimmte sie zu und nickte mit dem wollmützenbewehrten Kopf. »Das sieht man.«
Kichernd folgten die drei der Menge die Wite Lane hinunter. In letzter Sekunde schaute Minnie Hawthorn sich noch einmal um. Hatte sie ihm gerade zugezwinkert?
»Den alten Weibern kann man nichts vormachen«, stellte Harry leise fest.
»Wir sollten sehen, dass wir weiterkommen«, sagte Evi. »Jetzt geht es wieder. Und wir haben die Fletchers noch gar nicht gesehen.«
»Augenblick. Solange ich Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit habe, gibt es da noch etwas, was Sie wissen sollten.«
Ein lauter Knall ließ sie beide zusammenfahren. Ein goldener Funkenregen schoss über Evis Kopf in die Luft empor und verschwand in den immer dichter werdenden Wolken. Die Ruine der Klosterkirche hob sich scharf gegen das kurze Aufleuchten ab. Ohne die Knochenmänner wirkte sie seltsam leer, allerdings war anscheinend einer zurückgelassen worden.
Harry senkte den
Weitere Kostenlose Bücher