Bluternte: Thriller
meinte Harry. »Und ja, ich habe auch Stimmen gehört. Unheimliche, körperlose Stimmen aus dem Nichts.«
Und er war nicht auf die Idee gekommen, das zu erwähnen. »Wann?«, fragte sie und richtete sich auf ihrem Sitz ein wenig höher auf. »Wo?«
»Wenn ich allein war«, antwortete er. »Aber nur in Heptonclough. Nur in der Kirche oder unmittelbar in ihrer Nähe. Ich wette, in der Schule hört Tom seine Stimmen nicht, oder doch?«
Evi lehnte sich wieder zurück. »Darüber muss ich erst mal nachdenken«, sagte sie. »Was genau machen wir eigentlich hier?«
»Ich habe diese Stelle vor ein paar Wochen entdeckt«, antwortete Harry, während er die Hand ausstreckte, um den Kassettenrekorder einzuschalten. Das Gerät begann zu rauschen, als er auf »Play« drückte. »Wir sind ungefähr zwanzig Meter vom Rand des Morell Tor entfernt, auf dem höchsten Punkt des Moores. Ich habe mir fest vorgenommen, dass ich hier rauffahre und mir das Feuerwerk anschaue.«
Er hatte ja nicht mehr alle Tassen im Schrank. Und sie musste aufhören zu lächeln, damit bestärkte sie ihn doch nur darin. »Sie sind drei Tage zu früh dran«, stellte sie fest.
Er drehte sich zu ihr um. Sein Arm glitt auf die Lehne ihres Sitzes. »In drei Tagen sind Sie vielleicht nicht bei mir«, erwiderte er. »Tanzen Sie?«
»Ob ich was tue?«
»Tanzen. Sie wissen schon, den Körper im Takt von Musik bewegen. Ich habe dieses Lied extra ausgesucht.«
Evi lauschte kurz. » Dancing In The Dark «, sagte sie leise. »Das hat meine Mum immer gespielt. Wo wollen Sie …?«
Harry war ausgestiegen und ging um den Kühler herum. Er hielt die Beifahrertür auf und bot ihr die Hand.
Evi schüttelte den Kopf. Definitiv nicht alle Tassen im Schrank. »Ich kann nicht tanzen, Harry. Sie haben mich doch gesehen, ich kann kaum allein gehen.«
Als hätte er sie nicht gehört, griff er über sie hinweg, um die Musik lauter zu drehen. Dann hatte er ihre beiden Arme umfasst und hob sie aus dem Wagen. Evi öffnete den Mund, um ihm zu sagen, dass das nicht klappen würde, sie hatte seit Jahren nicht mehr getanzt, sie würden beide der Länge nach hinfallen. Doch sie stellte fest, dass sie, gestützt von seinem Arm, der fest um ihre Taille lag, ohne große Mühe das letzte kleine Stück des Feldwegs entlanggehen und auf die Felsenkuppe des Tor hinaustreten konnte. Er nahm ihre rechte Hand in seine; sein anderer Arm blieb weiter um ihre Taille geschlungen, um sie aufrecht zu halten. Seine Jacke war offen. Seine Hand fühlte sich eiskalt an. Er hielt sie fest an sich gedrückt und begann, sich zu bewegen. Der altmodische Kassettenrekorder schien die Musik irgendwie zu verzerren, ließ das Schlagzeug lauter und eindringlicher klingen, als sie es in Erinnerung hatte. Und es war geradezu lächerlich laut, die Leute würden es unten im Ort hören … Doch es war unmöglich, sich deswegen den Kopf zu zerbrechen, an irgendetwas anderes zu denken als an Harry, der tanzte, als wäre er zum Tanzen geboren, sie dabei mühelos aufrecht hielt und ihr leise ins Ohr sang.
Der Wind wehte ihr das Haar übers Gesicht, Harry bog den Kopf zurück und zog sie in die Wölbung seiner Schulter, und noch immer bewegten sie sich, schwangen sich in einem Viervierteltakt auf dem harten Fels des Tor vor und zurück. Und sie hatte gedacht, sie würde nie wieder tanzen.
»Der singende, tanzende Priester«, flüsterte sie, als sie ahnte, dass das Lied gleich zu Ende sein würde.
»Hab’ auf der Uni in einer Band gespielt«, meinte Harry, als der Gesang verebbte und nur noch die sich langsam dahinschlängelnde Melodie des Saxofons über dem Moor zu hören war. »Wir haben ein paar Springsteen-Sachen gecovert.«
Das Saxofon verklang. Harry ließ ihre Hand los und legte beide Arme um sie. Sie fühlte die Hitze seines Halses an ihrem Gesicht. Das war doch Wahnsinn. Sie durfte sich nicht mit ihm einlassen, dass wussten sie doch beide, und doch standen sie hier auf dem gefühlten Gipfel der Welt, eng umschlungen wie zwei Teenager.
»Ich hatte einen total komischen Tag«, flüsterte er, als ein neuer Song begann.
»Möchten Sie darüber reden?«, brachte sie mühsam hervor.
»Nein.« Sie fühlte ein sanftes Streifen an ihrem Hals, dicht unter dem Ohr, und schauderte unwillkürlich.
»Ihnen ist kalt.« Er richtete sich auf.
Nein, überhaupt nicht. Lass mich nicht los.
Er trat zurück, einer seiner Arme sank herab, er wollte sie zum Auto zurückbringen. Sie legte ihm die Hand auf die Brust und hielt
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