Blutfeinde: Norwegen Krimi (German Edition)
standen immer noch am selben Fleck und schauten ihm nach.
6
Frank Frølich brauchte Zeit, um Welhavens Terminkalender zu durchforsten. Eine Verabredung, die sehr häufig vorkam, war mit den Initialen MH eingetragen. Er blätterte so lange, bis er eine Seite fand, auf der der Name ausgeschrieben war: Maria Hoff. Er durchsuchte die Gelben Seiten und fand nur eine einzige Person mit diesem Namen in Oslo, eine Psychologin. Er rief sie unter ihrer Privatnummer an. Dreimal meldete sich ein Anrufbeantworter. Beim ersten Mal sagte er nur seinen Namen und bat um Rückruf. Beim zweiten Mal fügte er den Titel »Polizeibeamter« hinzu. Aber nichts davon schien die Neugier der Psychologin zu wecken. Erst nach seinem dritten Anruf, als er Welhavens Verschwinden erwähnte, meldete sie sich. Zögernd bestätigte sie, dass Welhaven ihr Patient war. Aber es erschien ihr nicht nötig, Frølich zu treffen. Diese Woche sei sie völlig ausgebucht. Ob er denn nicht meine, dass Welhaven von selbst wieder auftauchen würde?
»Sie müssen doch sicherlich ab und zu eine Ruhepause einlegen, oder?«, fragte Frølich entwaffnend.
Doch, das musste sie natürlich.
Und wenn sie zum Beispiel morgen in ihrer Mittagspause miteinander sprächen?
Sie nahm sich Bedenkzeit, entschied dann aber, dass sie eine halbe Stunde erübrigen könnte, und schlug das Bølgen&Moi in Briskeby vor, weil es von ihrer Praxis aus gut zu Fuß erreichbar war. Frølich stimmte zu. Dann rief er Fride Welhaven an und erklärte ihr, er brauche noch weitere Informationen über ihren Vater sowie einige Vollmachten.
»Fragen Sie doch einfach«, sagte sie.
»Können wir uns nicht irgendwo zum Kaffee treffen?« Er schlug ihr dieselbe Zeit und denselben Ort vor. »Ich bin dort sowieso mit jemandem verabredet«, erklärte er.
Hinterher suchte er im Internet nach Marius Welhaven . Er merkte schnell, warum ihm der Name bekannt vorkam. Es tauchten Pressefotos von einer Ehrenmahnwache auf dem Militärflugplatz Gardemoen auf. Die Bilder hatte er schon einmal gesehen, als sie über den Fernsehschirm flimmerten. Marius Welhaven hatte das Schicksal in Afghanistan ereilt. Ein erklärter Islamist war in Meymaneh mit einem Auto voller Dynamit in eine Militärpatrouille gefahren. Zwei Tote und mehrere Verletzte. Marius Welhaven – geboren am 14. September 1981, im Dienste der Nato im Telemarkbataillon – fiel für Norwegen am 23. März 2006. Der Junge war also nicht einmal fünfundzwanzig Jahre alt geworden. Der Sarg war in die norwegische Flagge gehüllt. Militärische Ehrenmahnwache, Trauernde. So aus der Ferne fotografiert hätte es fast ein Gemälde aus der Romantik sein können. Das Foto war körnig, die Gesichter der Hinterbliebenen waren nicht gut zu erkennen. Frølich erkannte Welhaven an seinem grauen Haar. Der Anwalt trug einen dunklen Staubmantel, hatte die Hände nachdenklich hinter dem Rücken verschränkt, den Blick zu Boden gerichtet. Neben ihm stand eine dunkelhaarige Frau mit Sonnenbrille im Nostalgiestil, Fride Welhaven.
Frank Frølich betrachtete das Foto eine Weile. Auf welcher Art von Beziehung beruhte die Trauer des Mannes? Hatte der Vater den Sohn unterstützt, oder war er dagegen gewesen, als dieser die militärische Laufbahn einschlug und sich aktiv für den Dienst in Afghanistan bewarb? Vater und Sohn hatten wahrscheinlich ausführlich darüber diskutiert. Der Junge war Minenräumer gewesen. Welhaven musste besorgt gewesen sein, weil sein Sohn so eng mit Sprengstoff in Berührung kam. Der Gedanke, was Dynamit mit einem Körper machen kann, musste ihn geängstigt haben. Und dann wurde der Alptraum Wirklichkeit. Jemand hatte den Sohn in den Tod gebombt. Der Vater hatte die Tür geöffnet und in das Gesicht eines Pfarrers schauen müssen, der ihm die Todesnachricht überbrachte.
Welhaven und seine Frau hatten gemeinsam zwei Kinder zur Welt gebracht, waren eine Familie gewesen. Die Kinder waren groß geworden. Dann starb die Mutter. Der Vater blieb mit zwei Kindern allein. Dann starb der Sohn.
Frank Frølich lehnte sich im Sessel zurück und dachte: Der Junge ist vor etwas mehr als vier Monaten gestorben. Welhaven ist vor ungefähr einer Woche verschwunden. Könnte sein Verschwinden mit dem Tod des Sohnes zu tun haben?
Er zeichnete ein großes T auf ein leeres Blatt Papier. Überschrift: Selbstmord? Auf die eine Seite des Mittelstrichs schrieb er: Depression – zwei Todesfälle in der Familie, Ehefrau und Sohn . Auf die andere Seite schrieb er: Selbstmord
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