Blutfrost: Thriller (German Edition)
Schlüssel und das Feuerzeug immer verschwunden war. Er lag hinter dem Aschenbecher.
Was hatte es mit Ärzten nur auf sich? Ich musste an einen Artikel im Journal Dagens Medicin denken, den ich damals, Anfang des Jahrtausends, so amüsant gefunden hatte. Unter anderem war es in diesem Aufsatz darum gegangen, unterschiedliche Berufsgruppen wie Juristen, Ingenieure, Pflegekräfte und Ärzte auf ihre Neigung zu Gewalt- und Mordtaten zu untersuchen. Peter Kramps Schlussfolgerung klingt mir noch heute im Ohr: »Klar ist, dass ich in Verbindung mit Gewalt- undTötungsdelikten deutlich mehr Ärzte als andere Akademiker untersucht habe.« Kramp war zu diesem Zeitpunkt Oberarzt der dem Justizministerium unterstehenden Rechtspsychiatrischen Klinik und dort zuständig für die psychiatrischen Gutachten.
Wieder dachte ich an die mysteriöse E-Mail. Ein Monster, das seine Kinder umbringt. Sie umzubringen versucht? Das Mädchen hatte auch am Mund eine deutliche Rötung gehabt, vielleicht hatte der Täter zusätzlich versucht, ihr die Flüssigkeit einzuflößen? Konnte es das sein, was »E« meinte? Mit aller Kraft verdrängte ich die Gedanken an die E-Mail und versuchte, mich darauf zu konzentrieren, wie gut es war, dass ich in dieser Nacht keine Bereitschaft hatte und es mir folglich leisten konnte, noch eine halbe Flasche zu trinken. Das tat ich, ging ins Bett und schaltete den Fernseher ein. Der Spätkrimi war vorbei, und ich lag steif wie ein Brett da und wusste ganz genau, dass ich nicht würde schlafen können. Also griff ich in meine Tasche und zog Madsens Buch Doktor Glas heraus. Vielleicht lag es am Wein, vielleicht an meinen Grübeleien, aber mir wurde sehr schnell klar, dass wir zwei, Doktor Glas und ich, eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten hatten. Ich las das halbe Buch in einem Rutsch, wunderte mich und legte es zurück in die Tasche. Noch immer steif wie ein Brett und den Kopf voller schwerer Gedanken. Schließlich nahm ich eine Schlaftablette, schlummerte ein und träumte von einem Planeten, der aus dem Gleichgewicht geriet und in ein großes schwarzes Loch gesaugt wurde.
9
Doktor Glas war zart und romantisch. Er benutzte Worte wie »herzlos« und »sorgenvoll« und hatte eine ganz eigene Sicht auf die Welt. Bereute machtlos seine Entscheidungen, verteidigte sie aber mit Händen und Füßen. Ich hätte Ski fahren und Fußball spielen und frisch und munter mit Freunden und Frauen umgehen sollen. Ich hätte heiraten und Kinder in die Welt setzen sollen. Er hasste andere Menschen, Liebe empfand er nur für ganz wenige. Auf mich hatte sein Stil eine beinahe hypnotische Wirkung, ich versank und spiegelte mich geradezu in ihm. Gedankenverloren verschlang ich Seite um Seite. Dennoch half mir die Lektüre, mich auf Nkem zu konzentrieren, auf den Mann im Rollstuhl, auf Fyn Nielsen, auf die guten Menschen, die es in dieser Welt ja auch noch gab. Dieses Gefühl legte sich wie ein Puffer zwischen mich und die anstrengenden Routinen des Tages.
In der Regel war ich gegen 16.30 Uhr mit der Arbeit fertig. Zu diesem Zeitpunkt meldete sich meist auch die Müdigkeit vehement. Da aber der Stapel der Post-it-Zettel der Sekretärinnen deutlich angewachsen war und das Symbol für eingegangene E-Mails hektisch blinkte, beschloss ich, diesen Dingen noch eine halbe Stunde zu widmen, um am nächsten Morgen mehr Zeit für einen kleineren Versuch mit Rohrreiniger zu haben. »Wir erwägen, die Eltern wegen schwerer Körperverletzung anzuklagen«, hatte Fyn Nielsen gesagt, als er mir den Polizeibericht gebracht hatte. Nachdem ich die Akte schließlich gelesen hatte, dachte ich: »Wenn ihr unbedingt wollt!« Ich war zwar keine Expertin für Verätzungen, aber was man nicht ist, kann man werden. Morgen, frisch und ausgeruht, hoffentlich.
Ich öffnete die Mailbox und sah, dass seit dem Vormittag siebenunddreißig neue Nachrichten eingegangen waren. Beim Überfliegen der Liste blieb mein Blick wie festgenagelt an einer neuen Nachricht von E hängen. Ich hielt die Luft an und öffnete sie:
Dr. Krause,
ich war gerade fünf Jahre alt, als ich meine außergewöhnlich hübsche Mutter zum ersten Mal sagen hörte: »Man muss sich immer wieder neu erfinden, wenn man das Leben ertragen will.« In den folgenden Jahren sagte sie diesen Satz immer wieder. Sie wiederholte ihn, wenn sie die Spinnweben im Haus mit Kupfer und Gold einsprühte. Meistens gingen sie dabei kaputt, aber wenn es meiner Mutter gelang, die filigranen Fäden einzufärben, war das
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