Blutfrost: Thriller (German Edition)
viel hübscher, viel »festlicher«, als sie einfach zu entfernen. Auch wenn sie eine neue Perücke aufsetzte, betonte sie, dass man sich immer wieder neu erfinden müsse, genauso, wenn mein Vater mal wieder vollgefressen und nach Alkohol stinkend ins Bett fiel. Man könne an Langeweile sterben, behauptete sie immer wieder, wenn man nicht ein paar »außergewöhnliche Dinge« mache.
Wir wohnten in Rexville, Steuben County, im Staat New York. Mit ihren gut sechshundert Einwohnern wäre es eigentlich passender, diese Stadt als Vorort oder Dorf zu bezeichnen …
»Verdammt«, flüsterte ich und drehte mich zum Fenster, »was soll das?« Irgendeine anonyme Spinnerin schrieb mir seltsame Sachen und teilte mir zu allem Überfluss jetzt auch noch mit, dass sie in Rexville wohnte? Bevor ich weiterlesen konnte, wurde ich von den Erinnerungen an Steuben County überwältigt,von den Gerüchen und der beklemmenden Übelkeit. Für mich würde Steuben County immer verbunden sein mit dem Gestank verwesender Leichen und einer Art konzentrierter Einsamkeit, die kaum zu beschreiben ist. Steuben County liegt in dem Teil des Staates New York, der the panhandle genannt wurde, ein Zipfel Land, der wie der Handgriff einer Bratpfanne am restlichen Staat angehängt war.
Als ich Ende zwanzig war, gab es in Dänemark keine rechtsmedizinische Fachausbildung, und viele von uns gingen deshalb freiwillig für ein Jahr in die USA. Ich arbeitete ein paar Jahre in Orange County, verbrachte meine Ferien aber damit, gemeinsam mit Steve Copp, Allen Lewis oder einem der anderen Rechtsmediziner in Steuben herumzufahren und Leichen zu untersuchen, die schlimmer stanken, als ich es jemals wieder erlebt habe.
Steuben County war arm, dünn besiedelt und in jeglicher Hinsicht unattraktiv. Der Albtraum aller Immobilienmakler und Rechtsmediziner. In Steuben County lebten die Einsamen, die Merkwürdigen und die Ausgestoßenen, dort wurden Leichen, die fast immer hässlich waren, noch viel, viel hässlicher, weil niemand sie vermisste und sie deshalb viel zu lange unentdeckt liegen blieben. »Another day, another stinker«, hatte Allen immer gesagt. Wir hatten kästenweise Wick VapoRub im Auto, und die halb durchsichtige, leicht beige Substanz klebte fast immer wie eine Schneckenspur unter unseren Nasen. Jedes Mal, wenn ich dieses Zeug auftrug, sah ich die Bilder wieder vor mir: das hingebungsvolle Gesicht meiner Mutter, ihre elegante kleine Hand, mit der sie Daniel die Creme unter die Nase rieb und mir dann das Glas reichte, aber nur, damit ich es wieder in den Schrank stellte.
Rexville – im hinterletzten Eck, so sagte ich früher immer. Dort hatten wir einmal, etwas außerhalb der Stadt, fünf Kilometervom nächsten Nachbarn entfernt, eine Leiche untersucht, gegen deren Gestank auch Wick VapoRub nichts mehr ausrichten konnte. Schon als wir uns dem Haus näherten, mussten wir die Fenster des Wagens schließen und die Lüftung ausschalten, was an einem heißen Sommertag, an dem sowohl die Temperaturen als auch die Luftfeuchtigkeit kaum mehr zu toppen waren, eigentlich eine Zumutung war. Ein Stück entfernt standen einige Feuerwehrleute vornübergebeugt und rangen nach Luft. Daneben stand Amy, die zäheste kleine Kriminaltechnikerin, die ich jemals getroffen habe. Sie hatte die Hände auf die Oberschenkel gestützt und sah aus, als müsste sie sich übergeben. Im etwas weiter entfernt parkenden Wagen der Kriminaltechnik saß ihr Chef, den Kopf auf das Lenkrad gelegt.
Noch während wir einparkten, kam Amy auf uns zugestürzt und erklärte, während wir uns unnützerweise extra viel Creme unter die Nasen schmierten, dass ihr Kollege sich weigerte, ins Haus zu gehen, dass sie aber jemanden bräuchte, der beim Eintüten des Beweismaterials half. Auf meine Frage, was die Feuerwehr hier zu suchen hatte, antwortete sie, dass sie zwei große elektronische Ventilatoren im Haus aufgestellt hätten, um den Verwesungsgeruch zu vertreiben. Offensichtlich war dieser Plan jedoch nach hinten losgegangen, die Dinger bombardierten Amy bloß mit Fliegeninnereien. Trotzdem wollten die Feuerwehrleute sie nicht ausschalten. Wir stiegen aus, und der Gestank trieb mir sogleich die Tränen in die Augen. Ich versuchte, die Luft anzuhalten, doch mit jedem Atemzug füllte sich mein Mund mit dem faulen Geschmack zerfallenden Fleisches. Steve, mein rechtsmedizinischer Mentor, erklärte knapp, zum Eintüten der Beweismittel reiche ja einer von uns als Hilfe, und ging hastig zu den
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