Blutfrost: Thriller (German Edition)
bin ja auch keine Negerin.«
»Nein, im Moment nicht«, sagte sie kalt.
Nkem pflegte immer zu sagen: »Du bist eine Negerin«, und ich antwortete jedes Mal: »Sag das lieber nicht zu laut.« Lediglich beim ersten Mal hatte ich eine aschblonde Strähne von meinen Haaren in die Finger genommen und gesagt: »Na ja, nicht ganz, oder?« Sie war daraufhin mein Gesicht durchgegangen und hatte gesagt, ich hätte Negerlippen, dickes, elastisches Bindegewebe und braune Augen – und das würde ihr eigentlich reichen. Danach kam sie immer wieder mit diesem Negerinnen-Satz und ich wusste ziemlich genau, was sie damit meinte: Vom Schicksal dazu auserkoren, in den Augen der Weißen immer als etwas andersartig dazustehen.
Das war es, was wir gemeinsam hatten. Und diese Gemeinsamkeit war uns im Moment abhandengekommen. Ich blieb in meiner Kabine sitzen, bis sie gegangen war, und je länger ich dort saß, desto mehr hasste ich sie. Zum Schluss war ich nur noch wütend. Dann fuhr ich nach Hause, nahm eine Paracetamol und rief den Rollstuhlmann an. Ich wollte es endlich wissen: Was tat ein Mann, der sich nicht einmal an der Nase kratzen konnte, wenn er Lust hatte, gegen eine Tür zu treten?
18
Wut, zeigte sich, war nicht unbedingt ein physisches Problem für einen Mann, der sich nicht einmal selbst an der Nase kratzen konnte. Der Rollstuhlmann behauptete, nie wütend zu werden. Natürlich nicht, dachte ich. Wut gab es in diesen Lichtjahre entfernten Galaxien, aus denen er kam, ja gar nicht, bloß diese buddhaartige Ruhe. Er würde nur still, wenn er wütend sei, sagte er und lud mich wieder in sein großes Haus ein. Da sei Platz genug, um alles abzuladen, was ich loswerden wollte. Dort gäbe es für jede Sache, für jeden Menschen ein eigenes Zimmer. Ich konnte Daniel ins Klo sperren, Nkem samt ihrem verfluchten Volvomann ins Gästezimmer und all ihren Krimskrams zu den Sekretärinnen ins Büro, wo sie verhungern oder Staubmilben fressen konnten. Für meine mumifizierten Kollegen blieb dann noch die Bibliothek, in der sie sich gegenseitig mit ihrer überdeutlichen Aussprache aus uralten Büchern vorlesen konnten. Die Türen könnte ich verschließen und mich dann mitsamt dem riesigen Schlüsselbund in die Welt aufmachen. Aber noch nicht jetzt, später vielleicht.
Nkem war mit dem verfluchten Volvomann unterwegs. Die Nacht war dunkel, ich hatte Hunger und im Kühlschrank herrschte mal wieder gähnende Leere. Ich fasste spontan den Entschluss, nach draußen zu gehen, eine kleine Runde zu drehen, mir etwas zu essen zu holen und meinen Marktwert zu testen. In dieser Reihenfolge. Ich warf einen Blick durch das Fenster und stellte fest, dass es nicht mehr regnete. Also zog ich mir den Mantel an, ging über die Treppe nach unten und dachte über Falafel nach. Doch statt nach rechts zu gehen und weiter durch den Munke Mose bis zur Dönerbude, entschieden meine Beine sich für den Weg nach links, den Hunderupvej herunter.
Ich hatte alles vergessen. Immer, wenn ich sehr wütend oder traurig war, übernahmen meine Gefühle die Regie, und mitunter vergaß ich dann sogar, warum ich wütend oder traurig war. Ich verlor die Orientierung. Später versuchte ich dann irgendwann, mich wieder zu erinnern, worüber ich mich geärgert hatte. In diesen Momenten tauchten dann immer eine ganze Reihe von potentiellen Gründen auf und reihten sich brav in die Schlange ein, als wollte mein Unterbewusstsein mich bereitwillig mit allen möglichen Ausreden versorgen, schlechte Laune zu haben. Genau das geschah, als ich über den Jagtvej in Richtung Hunderupvej lief. Warum geht es mir eigentlich so schlecht, fragte ich mich, und sah Nkem und ihren Lover vor mir, der sie mir wegnehmen wollte. Auch Daniels schönes, böses Gesicht tauchte plötzlich auf. Er warf mir jenen Blick zu, den ich so hasste und der mir immer deutlich zu verstehen gab, dass er den Sieg davontragen würde … Ganz unvermittelt bog ich nach links ab und ignorierte meinen Hunger, während all diese vielen Fragen auf mich einhagelten. Wie lange wohnte er schon hier und warum? Hatte er wirklich sein Kind misshandelt? War er so böse? Hasste er nicht nur mich, sondern die ganze Welt, inklusive seiner Kinder? Wie viele Kinder hatte er überhaupt? Hasste er auch seine Frauen? War er wirklich der Teufel in Person, oder täuschte ich mich in ihm? Vielleicht war nicht nur seine Schwiegermutter eine gestörte Münchhausen-Person, sondern auch seine Frau – es war ja bekannt, dass sich Münchhausen
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