Blutfrost: Thriller (German Edition)
Kloschüssel, eine Folge meiner kleinen, blauen Migränepille. Der nächste, einleuchtende Schritt war natürlich der Besuch bei einem Arzt, schließlich handelte es sich wieder einmal um einen Notfall, egal ob es nun Hals, Kopf, Bauch oder Herz waren, denen etwas fehlte.
Mutter war natürlich schwanger. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir allerdings noch nicht ausgerechnet, dass der Vater des Kindes der Fotograf sein musste, der bereits Anfang des Jahres sein Projekt eingepackt und sich in Richtung Manhattan aus dem Staub gemacht hatte, ohne sich noch einmal in Rexville sehen zu lassen. Meine Mutter hatte tagelang geheult.
Eines Abends fand ich im Papierkorb all die Postkarten, die Mutter nach Dänemark hatte schicken wollen. Ihre Grüße aus Rexville waren im Müll gelandet. Als ich sie darauf ansprach, sagte sie mit Tränen in den Augen, dass es ja keinen gäbe, dem sie diese Grüße schicken könnte. Sie hätte keine Familie in Dänemark, alle dort seien tot. Sie hätte nur so getan, als gäbe es jemanden, dem sie ihre Grüße schicken konnte.
So krank wie in dieser Zeit war ich nie zuvor gewesen! Pillenschachteln stapelten sich auf meinem Nachttisch. Die Dosis wurde ständig erhöht, und ich konnte kaum noch etwas bei mir behalten: Keine Haferflocken, keine Chips, keine Pfannkuchen mit Sirup undganz sicher keine Milch. Meinem Herzfehler waren wir nie auf den Grund gegangen, sodass ich mit wechselnder Dosierung noch immer meine Herzmedikamente nahm. Aber krank war ich. Das war klar! Verdammt klar!
Bis mein kleiner Bruder im nächstgelegenen Krankenhaus zur Welt kam. Er war von Anfang an so kerngesund und lebhaft, dass alle, die ihn sahen, unwillkürlich ihre Hände an seine Wangen legten und ausriefen: »Was für ein Wonneproppen, der ist aber süß!«
Das Leben meiner Mutter konzentrierte sich schnell nur noch auf den kleinen, süßen Schatz, sodass sie mir vollkommen zu sagen vergaß, dass ich meine Pillen nehmen musste. Ich selbst dachte auch nicht daran. Es vergingen sechs Wochen, bis mir bewusst wurde, dass ich eigentlich längst tot sein müsste, obwohl ich mich besser als je zuvor fühlte, was vielleicht auch damit zu tun hatte, dass sich meine Mutter nicht mehr um meine extreme Diät kümmerte. Der Mittelpunkt ihres Lebens war jetzt der kleine Wonneproppen, der – wie alle sagten – so kerngesund war.
Was diese Tatsache anging, war Mutter sich aber gar nicht so sicher. Sie studierte jeden Millimeter seines Körpers, sah ihm mit einer kleinen Taschenlampe in die Augen und fand heraus, dass er Halsweh hatte. Und dann ging es los. Ich kam natürlich mit, denn ich sollte nicht allein bei Vater bleiben, der ja nur herumsaß und soff. Trotzdem ging es mir ziemlich gut, und ich war lange nicht mehr so glücklich gewesen.
Mit meinem kleinen Bruder, der John heißen sollte, auch wenn er nie getauft wurde, waren Mutters Wege allerdings samt und sonders vergeblich.
»Aber was soll mit dem Kleinen denn nicht in Ordnung sein?«, fragte ein Arzt nach dem anderen.
»Er hat schreckliches Halsweh«, beklagte sich meine Mutter und fasste ihm mitfühlend an die Kehle.
Die Ärzte schauten John der Reihe nach in den Hals und konnten allenfalls eine kleine Reizung feststellen.
»Warum glauben Sie, dass er Halsweh hat? Hat er Ihnen das gesagt? Hahaha.« Mein kleiner Bruder war zu diesem Zeitpunkt drei Monate alt.
»Eine Mutter spürt so etwas«, sagte sie gereizt.
»Fieber hat er aber auch nicht«, konstatierte ein Arzt, nachdem er seine kalte Hand auf die Stirn des Kleinen gelegt hatte. Ich schloss die Augen und hielt die Luft an, während meine Mutter ihre übliche Ausrede, dass sie noch kurz vor unserer Abfahrt 39,2 °C bei ihm gemessen habe, vom Stapel ließ.
»Er hat gute, klare Augen«, sagte der Arzt und blickte zufrieden auf meinen glücklichen kleinen Bruder, der gurgelnd seine Stimme ausprobierte und nach dem Zeigefinger des Arztes griff. Er sah wirklich aus wie ein kleiner Engel. »Ein kerngesundes, lebhaftes Bürschchen, Mrs. Levine. Fahren Sie ruhig wieder mit ihm nach Hause.«
»Das muss ich dann wohl, wenn Sie ihm nicht helfen wollen!«, antwortete sie wütend und stand auf. »Oder vielmehr, wenn Sie nicht kompetent genug sind, mir zu helfen.«
Eines Tages beobachtete ich, wie sie sich über das Baby beugte und ihm mit einem langen Wattestäbchen im Hals herumfuhr. Neben ihr auf dem Tisch stand eine Flasche Abflussreiniger. John heulte und strampelte, und ich fragte ängstlich, was sie mache.
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