Blutfrost: Thriller (German Edition)
»Ich entferne den schrecklichen Belag, den er im Hals hat, die Ärzte wollen sich ja nicht darum kümmern«, sagte sie. Ich las mir das Etikett auf der Flasche durch, während sie weitermachte. Es klang, als würde man sterben, nur wenn man den Deckel ohne Schutzkleidung anfasste. Da sie so mit ihrer Operation beschäftigt war, nutzte ich die Gunst der Stunde, schnappte mir die Flasche, rannte ins Bad, kippte sie im Waschbecken aus und füllte sie mit sauberem, klarem Wasser. Ich war gerade fertig, als Mutter rief:
»Hey, hast du mir die Flasche geklaut?«
Ich stellte sie wortlos auf den Tisch neben ihr und murmelte: »Ich wollte nur ein bisschen aufräumen. Es ist hier so unordentlich.«
In dieser Zeit träumte ich zum ersten Mal davon, mich in einen Greyhound-Bus zu setzen und weit, weit weg zu fahren, in irgendeine verschlafene Stadt, wo ich einfach aussteigen würde. Manchmal fand ich in meinen Träumen Arbeit in einem Café, schnitt Blaubeerpie oder Erdbeerkuchen in feine Stücke und schenkte den müden Männern, die wehmütig in Richtung der klagenden Musicbox sahen, Kaffee ein. Hatte ich frei, verbrachte ich meine Zeit allein auf meinem Zimmer, wo sich eine seltsame Form von Frieden über mich senkte. Andere Male stellte ich mir vor, in einem Adoptionsbüro in einer größeren Stadt zu sitzen und nach einer Familie Ausschau zu halten. Der Traum ging damit weiter, dass ich mit dem kleinen, hellroten Koffer, den Mutter mir per Mailorder gekauft hatte, durch einen Garten auf ein großes Haus zuging, in dem eine neue Mutter und ein neuer Vater mich mit strahlenden Augen (aber ohne das göttliche Licht, das meine Mutter mitunter umhüllte) mit offenen Armen in Empfang nahmen, ehe sie mir ihr normales Haus und mein normales Zimmer zeigten. Sie behandelten mich normal, gaben mir normales Essen und schenkten mir ein wunderbar normales Leben. In diesem Moment war ich mir sicher, so etwas noch nie erlebt zu haben. Und das Beste war, dass ich vollkommen dazu in der Lage war, dieses fantastische Ehepaar auf eine ganz neue Weise zu lieben. Dieser Traum war mein absoluter Lieblingstraum, er half mir, gegen die Sehnsucht und die Leere, die ich immer empfand, anzukämpfen. Vier, fünf Mal am Tag spielte ich in Gedanken diese Zukunftsvision durch, und je mehr ich träumte, desto klarer wurde mir, was ich wollte: Weg!
Ich starrte minutenlang auf das Wort »Weg!« und sah den kleinen, hellroten Koffer vor mir. Sie hielt ihn in der Hand, als ich ihr das neue Zimmer zeigte, in dem sie ab jetzt leben würde. Und ich sah mich selbst, eine Frau mit geöffneten Armen, die ihr normales Essen, ein normales Leben schenkte – ein Leben, das sie wirklich lieben konnte. Ich sah dieses eine Wort an und spürte, welch ungeheurer Frieden sich über sie und mich legte, wie eine dicke, dunkelrote Samtdecke.
»Sind Sie jetzt zur dunklen Seite der Macht übergelaufen?« Ich zuckte zusammen und drehte mich um. Micky, einer der Techniker der Rechtsmedizin, stand mit einem schiefen Grinsen in der Tür und kaute wie immer auf seinem Kaugummi herum.
»Was?«
»Gehen Sie heute nicht heim, Krause?«
Ich starrte ihn nur an, während die Sekunden tickend vergingen. Er legte den Kopf auf die Seite. »Wie … wie spät ist es denn?«, fragte ich schließlich.
»Nach acht. Außer Ihnen und mir ist keiner mehr da, und ich fahre jetzt auch.«
Ich wandte mich ab und sah aus dem Fenster. Es war dunkel geworden. »Nein, nein, ich bin auch gleich fertig. Könnten Sie die Türe schließen?«
Er murmelte etwas wie »mein Gott« und ließ dann laut die Tür ins Schloss fallen.
Ich lehnte mich zurück und dachte nach. Es war mehr als zwanzig Jahre her, dass ich im Staat New York als Ärztin praktiziert hatte. Die meisten Details hatte ich schon lange wieder vergessen, ich glaubte mich aber trotzdem daran zu erinnern, dass The Board of Education für die Zulassung der Ärzte zuständig war. Also rief ich dort an. Fünf Minuten später wusste ich, dass Daniel Krause seine Zulassung Anfang 2008 verloren hatte,weil er mit einer Patientin geschlafen hatte, während ihr Mann und ihre Kinder sich im Wartezimmer aufgehalten hatten. Er war aber schon vorher durch unpassende Beziehungen zu Patienten oder die Verschreibung wirkungsloser Medikamente unangenehm aufgefallen. Ich versuchte, dieses Wissen zu verdrängen, aber meine Finger kribbelten schrecklich. Am liebsten hätte ich Daniel angerufen und ihm gesagt, was ich wusste. Ich musste mich laut zurechtweisen: »
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