Blutgeld
zu einer Telefonzelle und rief die Zentrale an.
32
Lina erwachte auf dem Steinfußboden eines verdunkelten Raumes. Als sie die Augen aufmachte und nur Dunkelheit sah, wurde sie von einer panischen Angst ergriffen, erblindet zu sein, gefolgt von einem Gefühl der Höhenangst, als würde sie durch den Weltraum in diesen schwarzen Kasten fallen. Sie setzte sich auf und berührte ihre Kleidung und stellte fest, dass sie immer noch dasselbe Kostüm trug, das sie in Genf getragen hatte. Das munterte sie für einen Moment auf, bis sie unter ihre Bluse fühlte und feststellte, dass ihr BH nicht mehr da war. Jemand hatte ihn ihr ausgezogen, aber sie hatte keinerlei Erinnerung an die vorangegangenen Stunden, keine Ahnung, wo sie war und wie sie dorthin gekommen war.
An dem Geruch, der den Raum beherrschte, erkannte sie, dass sie in Bagdad sein musste. Es war der scharfe Geruch von menschlichen Exkrementen, vermischt mit dem Geruch von Essen, Schweiß und Verwesung. Das Aroma war ein Ersatz für Licht in dem verdunkelten Raum. Es war die einzige Botschaft an ihre Sinne. Lina spürte Übelkeit in sich aufsteigen und auch das Bedürfnis, sich nach so vielen Stunden zu erleichtern. Sie tappte auf allen vieren zu der Quelle des Gestanks, wich aber sofort zurück, als ihre Hand eine Öffnung im Boden fand und etwas Feuchtes berührte. Sie stand auf und hockte sich über diese primitive Toilette. Als sie fertig war, griff sie automatisch nach Toilettenpapier, und als sie erkannte, dass es keines gab, tupfte sie sich mit dem Saum ihres Rocks ab.
Die Schreie begannen, als Lina sich an der rauen Betonwand ihrer Zelle entlangtastete. Es war die Stimme einer Frau, so scharf und unmittelbar, dass Lina dachte, sie käme aus ihrer eigenen schwarzen Zelle. Sie sank voller Angst zu Boden, aber als das Heulen andauerte, wurde ihr klar, dass es von außerhalb ihrer Zelle kam. Die Frau kreischte, zuerst in blankem Entsetzen –
nein, nein, nein
– und dann vor Schmerz, als die Schläge begannen. Lina hörte ein Zischen, als etwas durch die Luft peitschte, gefolgt von einem grauenhaften Knall, als es auf Haut traf, dann ein markerschütternder Schrei. Und wieder und wieder. Während die Schläge fortgesetzt wurden, hörte Lina, wie die Frau vergeblich um Gnade flehte –
«Ya sayyidi!» O Herr
! Und schließlich, als der Schmerz selbst die Kraft zu schreien gebrochen hatte, hörte Lina das gedämpfte Klagen ihrer Gebete – «
Ya sitr! Ya kafidh!» O Retter. O Beschützer
– als sie sich der Bewusstlosigkeit näherte. Und schließlich hörte Lina eine Männerstimme, erschöpft von der Verausgabung, die
«Koussa!» – Fotze
! – schrie. Und dann Stille. In dieser Stille wusste Lina mit absoluter Sicherheit, wo sie sich befand. Sie befand sich im Qasr al-Nihayya. Im Palast des Endes.
Lina lag mehrere Stunden lang auf dem Boden, unfähig zu schlafen, zu verängstigt, um sich auch nur zu bewegen. In ihrem Kopf hallte das Schreien der Frau nach. Manchmal schlugen sie sie mit einer Eisenstange, manchmal mit einer Kette, manchmal auf ihr Gesäß, manchmal zwischen die Beine. Lina versuchte, an etwas anderes zu denken, aber sie wusste, dass es für sie nichts anderes gab. Der kalte Stein an ihrer Wange fühlte sich fast wohltuend an. Sie fragte sich, ob sie den Kopf lange genug gegen den Steinboden schlagen konnte, um das Bewusstsein zu verlieren, und stellte fest, dass ihr der Mut dazu fehlte. Ihre Hoffnung, dachte sie, war ihr britischer Pass. Die konnten sie nicht so brutal behandeln wie diese arme Frau, deren Tortur sie mit angehört hatte. Sie war keine Irakerin mehr. Sie war eine Frau des Westens. Die würden es nicht wagen. Aber die Hoffnung verblasste in der Dunkelheit im Widerhall der Schreie. Hin und wieder hörte Lina Schritte draußen vor ihrer Zelle und leise Stimmen, die Arabisch sprachen; dann dachte sie, sie würde jetzt abgeholt, aber die Geräusche erstarben immer wieder. Nach vielen Stunden hörte sie, wie ein Schlüssel in ein Schloss gesteckt wurde, und dann wurde ihre Tür aufgestoßen.
«Steh auf», sagte eine Stimme. Das plötzlich hereinströmende Licht blendete Lina, und sie hatte zuerst Angst hinzusehen. Als sie die Augen öffnete, sah sie einen Mann Mitte dreißig, in einer Lederjacke und Bluejeans. Seine Schuhe, die keinen Meter vor Linas Gesicht aufragten, waren Trotteure mit kleinen Quasten dran, wie sie bei Brook Brothers verkauft wurden. Er war dünn wie ein Windhund und stand in krummer Haltung vor ihr.
Weitere Kostenlose Bücher