Blutgeld
verteilt. Es war das grauenhafte Bild willkürlicher Gewalttätigkeit, die ein irakisches Markenzeichen war. Lina wollte sofort flüchten, aber als sie begriff, dass die Suite leer war, blieb sie einen Moment wie erstarrt stehen und versuchte, klar zu denken. Sie suchten offenbar irgendwas, aber was? Die Antwort machte ihr Angst. Hammuds Männer mussten ihren Computerüberfall auf ihren Schatz schon entdeckt haben. Eine der Banken musste bei ihm oder bei Mercier nachgefragt haben, um sich den Transfer bestätigen zu lassen. Sie blickte wieder auf die verwüstete Hotelsuite. Es war offensichtlich, dass die Genfer Regeln nicht mehr galten.
Lina ging zur Tür zurück und öffnete sie einen Spalt. Der Flur war immer noch leer. Sie würden bald wiederkommen. Sie musste weg. Sie trat hinaus und machte die Tür zu. Ihre Reisetasche ließ sie im Zimmer, sie würde sie nur behindern. Sie rannte den Flur entlang, zurück zum Lastenaufzug. Dort saß ein türkisches Zimmermädchen und rauchte eine Zigarette. Lina drückte den Knopf des Lastenaufzugs. Das Zimmermädchen schüttelte den Kopf. «Nicht erlaubt. Nicht erlaubt», sagte sie. Weiter hinten im Flur klingelte wieder die Glocke. Diesmal sprachen die Männer, die herauskamen, Arabisch.
«Still!», raunte Lina dem Mädchen zu. Sie griff in ihre Brieftasche, fand einen Fünfzig-Franc-Schein und gab ihn der Türkin. «Kein Wort!»
Die arabischen Stimmen wurden lauter. Sie mussten wieder in Sams Suite sein. Wo blieb nur der verdammte Lastenaufzug? Einer der Araber brüllte einen Fluch. Er musste Linas Tasche entdeckt haben. Es gab Krach und noch mehr Gebrüll. Sie schrien sich gegenseitig an, während sie nach Lina suchten.
Schließlich klingelte die Glocke des Lastenaufzugs, und die Tür ging auf. Lina sprang hinein und drückte den Knopf zum Erdgeschoss. Die Araber rannten jetzt. Sie hatten die Glocke gehört. Gerade als die Aufzugtür endlich zuging, sah Lina ihre Gesichter. Hammuds Männer stürzten mit aufgerissenen Mündern und mit der Wildheit von Jagdhunden auf die Aufzugtür zu. Einer packte das türkische Zimmermädchen und schleuderte es gegen die Wand. Die arme Frau hielt immer noch ihren Fünfzig-Franc-Schein in der Hand.
Der Aufzug fuhr langsam nach unten, aber er erreichte das Erdgeschoss, ohne stehen zu bleiben. Als die Tür aufging, stürzte Lina an einem Zimmerkellner vorbei auf den Personaleingang zu. Sie rauschte an dem Schweizer Portier vorbei hinaus auf die Laderampe. Das Gelände war immer noch menschenleer. Hinter dem Hotel sah sie Wald und rannte darauf zu, kletterte über einen niedrigen Zaun und durchquerte dann das Waldstück. Sie blieb erst stehen, als sie nach einem knappen Kilometer eine kleine Seitenstraße erreichte.
Ein einsamer Citroën kam das schmale Sträßchen entlanggetuckert. Lina sprang vor das kleine Auto. Der Fahrer schrie auf Französisch, als plötzlich in seinem Scheinwerferlicht eine verzweifelte Frau auftauchte, wie eine Entlaufene aus einer Irrenanstalt.
«S’il vous plaît!»
, schrie sie und drückte die Handflächen wie im Gebet aneinander. «Bitte!»
Der alte Mann am Steuer musterte sie skeptisch und machte ihr dann die Tür auf. Er bot ihr eine Zigarette an, und als er sah, dass sie zitterte, sogar seinen Mantel. Er schien so erleichtert zu sein, dass sie doch keine Irre war, dass er sich bereit erklärte, sie bis zum Güterbahnhof zu fahren, auf der anderen Seite der Rhône. Unterwegs, als sie Richtung Intercontinental fuhren, sah sie das Blaulicht der Polizei, aber Lina achtete nicht darauf. Es gehörte zu einer Welt, aus der sie im Begriff war zu verschwinden.
Sam Hoffman kehrte kurz vor zehn ins Hotel Intercontinental zurück, nach einem langen, lauten Abendessen mit seinem Vater in einem überteuerten Restaurant, bei dem der alte Mann eine Menge getrunken hatte und Sam nichts. Die Abstinenz seines Sohnes schien Frank Hoffman sogar noch anzustacheln. «Empörende Mittelmäßigkeit!», brüllte er immer wieder und schlug mit der Faust auf den Tisch, während er verschiedene CIA -Katastrophen beschrieb, bis der Chefkellner ihn bitten musste, ruhig zu sein. Der Höhepunkt des Abends war die Ankunft des Geigers. Frank ließ den Blick durch den Saal schweifen, und als er feststellte, dass er zum größten Teil mit Arabern gefüllt war, rief er laut: «Spielen Sie Hava Nagila!» Der Geiger versuchte, die Bitte zu ignorieren, aber Frank rief wieder: «Spielen Sie Hava Nagila, verdammt nochmal!» Als der Geiger
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