Blutgeld
Lichtstrahl eines Scheinwerfers, dem man nicht entrinnen konnte, weil man nicht wusste, wo er als Nächstes hinstrahlte. Sie ging wieder in die U-Bahn und fuhr mit der Circle Line eine Station bis Sloane Square. Sie konnte einfach noch nicht nach Hause gehen, und so stieg sie dort aus und wartete auf einen anderen Zug.
Lina saß auf der Holzbank in einer schmutzigen U-Bahn-Haltestelle und starrte zu den Plakaten mit den Frauen hoch, die in ihrer Begeisterung für Tonic Water und Süßigkeiten ihre Kleider ablegten. Am Ausgang sang ein Straßenmusiker mit schaurig falscher Intonation Songs von Bob Dylan. Eine in Lumpen gekleidete Zigeunerin arbeitete sich die Bänke entlang und bettelte in einer undefinierbaren Sprache um Geld. Es war eine Szene seelischer Verwüstung, die zu Linas innerem Aufruhr passte. Sie hatte plötzlich das Gefühl, dass sie ein Gebet sprechen sollte, aber sie war sich nicht sicher, ob sie wusste, wie das ging. Das war auch eines ihrer Probleme. Sie war ihrer eigenen Religion entfremdet. Sie backte, wie es die Tradition wollte, immer noch Plätzchen am Eid al Fittir und bat Gott höflich darum, jedem, der über die Schwelle ihres Hauses trat, Gesundheit zu schenken; aber beten konnte sie nicht. Ihr Islam war wenig mehr als ein vager arabischer Unitarismus – das Gefühl eines verborgenen Allahs irgendwo da draußen, eines Gottes, der in Sonnenuntergängen, Blumen oder der Geburt eines Kindes sichtbar war, aber in Krisenzeiten unerreichbar.
Wieder fuhr ein Zug in den Bahnhof. Lina stieg ein, setzte sich und schloss die Augen vor dem Schmutz und der Betriebsamkeit der Circle Line. Während der Wagen hin und her schaukelte, wiederholte sie in Gedanken auf Arabisch ein Gebet, das sie ihren Vater sprechen gehört hatte: «Gott ist das Licht des Himmels und der Erde. Das Ebenbild Seines Lichts ist …» Sie versuchte, sich an den Rest zu erinnern, aber er war weg. Das Einzige, was ihr noch einfiel, war das einfachste Gebet von allen:
La ilaha illa-Llah. Mohammed rasul allah
–
«Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist Sein Prophet.»
Es war ein seltsames Gefühl zu beten. Ihre jungen arabischen Freunde würden sich für sie schämen. Beten, das war was für Iraner und Verrückte mit langen, wolligen Bärten.
«La ilaha illa-Llah. Mohammed rasul allah.»
Sie wiederholte es viele Male, die Worte waren so lindernd wie das Geräusch von Wasser, das über einen Stein fließt. Der Zug erreichte Notting Hill Gate, ihre Station. Lina fuhr noch eine Station weiter bis Bayswater und ging dann zu Fuß die Strecke zurück nach Hause.
Haram.
Es war wie ein Spiel, dieses ganze Beten, Umsteigen, Warten und Eine-Station-später-Aussteigen. Sie versuchte nicht, Hammuds Leute reinzulegen, die schon das Schlimmste gesehen hatten und alles wussten, was man wissen konnte. Sie versuchte, die tiefere Ursache ihres Unglücks auszutricksen, die universelle, aber unsichtbare Kraft, die die Araber
Al Ain
nannten oder den Bösen Blick.
Wie unklar ihre Vorstellungen von Gott auch waren, an den Bösen Blick glaubte Lina. Er war eine Naturkraft, allgegenwärtig und vollkommen unberechenbar. Leute sprachen in unbestimmten Worten vom Bösen Blick, als wäre er die Personifizierung des Pechs oder des Schicksals, aber er war etwas anderes und Bedrohlicheres als das. Der Böse Blick war die Verkörperung jenes Zuges der menschlichen Natur, der anderen Menschen Unheil wünscht. Er stand für Neid, für die Freude am Leid anderer, er war der Durst nach Rache. Der Böse Blick ist dein schlimmster Feind: Er nimmt dir weg, was dir am liebsten und teuersten ist. Wenn du schöne Beine hast und der Böse Blick sähe, wie sehr andere Leute sie bewundern, dann hättest du einen schrecklichen Unfall, der deine Beine verstümmelte. Wenn du gerne Bücher liest, würde der Böse Blick sich verschwören, um dich blind zu machen. Wenn du das Talent zum Musiker hättest, würde er dich taub machen. Um diese hinterhältige Kraft abzuwehren, musste man sie in die Irre führen. Das war die einzige Chance. Eine einfache irakische Bäuerin würde bei der Geburt eines Kindes in der Nachbarschaft sagen: «Was für ein hässliches Balg», um den Bösen Blick zu täuschen. Er soll denken, dass es nichts zu beneiden gibt und daher nichts zu zerstören; nur so würde er das Kind in Ruhe lassen.
Aber was, wenn der Böse Blick regelrecht versessen darauf war, dich zu vernichten, wenn er auf alle deine Tricks nicht hereinfiel? Dann musste man
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