Blutgeld
Kinderspiel für clevere Mädchen wie dich und mich. Gib
tar xv
ein. In diesem Fall steht das
xv
für ‹extract, verbosely›. Dann ein Leerzeichen, dann Slash, dann
user
und nochmal Slash, dann den Namen dieses armen Idioten, dessen Dateien du dir unter den Nagel reißen willst, dann ein Sternchen, das bedeutet, dass du alle Dateien sehen willst. Kapiert? Also
tar
, Leerzeichen,
xv
, Leerzeichen, Slash,
user
, Slash, Name, Slash, Sternchen. Hokuspokus! Ganz einfach. Wirklich. So, was kann sonst noch danebengehen?»
Lina blickte auf das Telefon und schüttelte den Kopf. «Alles. Ich will ja nicht dämlich klingen, aber ich darf keinen Fehler machen. Geh es noch einmal mit mir durch.»
«Erster Schritt: Besorg dir das Sicherungsband. Zweiter Schritt: Finde ein altes Gerät mit einem Treiber, das das Band lesen kann. Dritter Schritt: Spiel den ‹Superuser› und zieh dein
Tar
-Programm durch. Vierter Schritt: Lies alles, was du willst, du ungezogenes Mädchen. Fünfter Schritt: Kopier dir die Dateien, die dein Interesse wecken. Sechster Schritt: Tu das Band dorthin zurück, wo du es gefunden hast, seeehr vorsichtig, und niemand wird irgendwas bemerken. Siebter Schritt: Wenn du bei den gerade genannten Schritten irgendwo einen Fehler machst, dann bist du geliefert. Ist das klar?»
«Fast. Wo finde ich ein Gerät?»
«Das Gerät in deinem Büro zu benutzen kommt nicht in Frage? Könntest du nicht spätnachts hingehen, wenn niemand da ist?»
«Das wäre nicht klug.»
«Hier geht’s um was Superheikles, nehme ich an.»
«Und wie. Sonst würde ich dich nicht um Hilfe bitten.»
«Ach, was soll’s. Es gibt an der Uni einen UNIX -Verarbeitungsrechner, der dein Zeug lesen kann. Er ist fünf Jahre alt, und ich
weiß
zufällig, dass er alles hat, was du brauchst. Wann willst du loslegen?»
«Morgen Mittag.»
«Also gut. Er steht in der CompSci-Abteilung in der Gower Street, Raum 413. Weißt du noch, wo das ist? Morgen wird niemand da sein außer Shirley, der Sekretärin. Alle andern sind auf einer Tagung. Ich werde Shirley anrufen und ihr sagen, dass du das Gerät benutzen willst. Sie wird nichts dagegen haben. Sie kennt sich überhaupt nicht aus.»
«Wirst du da sein?»
«Nein, ich bin auch auf der Tagung. Du bist ganz allein. Aber keine Sorge. Es ist nicht schwer. Und wenn man dich erwischt, sag einfach, dass es dir leidtut. So mach ich das auch immer.»
Während Lina durch den Regen zurückging, ging sie in Gedanken noch einmal alle Schritte durch, die Helen beschrieben hatte. Es hörte sich alles einfach an, aber das war das Problem mit Leuten wie Helen. Die hatten ein anderes Betriebssystem, wie sie es bezeichnen würde.
Die Nacht kam Lina wie ein ganzes Jahr vor. Sie versuchte zu schlafen, ohne Erfolg. Sie wälzte sich im Bett hin und her und sah alle halbe Stunde auf den Digitalwecker mit seiner unerträglich präzisen Chronologie ihrer Schlaflosigkeit: 0:56. 1:48. 2:17. 2:34. 3:09. Schließlich stand sie auf und nahm eine Schlaftablette, durch die sie sich am nächsten Morgen ganz groggy fühlte. Was, in gewisser Weise, ein Segen war.
23
Früh am nächsten Morgen bekam Lina in ihrem Büro Besuch von dem palästinensischen Sicherheitsbeamten, der den braunen Armani-Anzug getragen hatte. Heute trug er einen olivgrünen Armani-Anzug, der an seiner ranken Gestalt wie an einer Schaufensterpuppe hing. Er sah scharfkantig und eckig aus. «Haben Sie ein Minütchen Zeit?», fragte er. Er lächelte, aber Lina war immer noch ganz nervös. Sie war erst einige Minuten zuvor zur Arbeit gekommen und überlegte sich schon, ob es unbedenklich war, sich die Sicherungsbänder zu holen und wann der beste Zeitpunkt dafür wäre. Und schon bekam sie Besuch von dem Sicherheitsbeamten.
«Darf ich mich setzen?», fragte er. Er war nicht nur «süß», wie Randa bemerkt hatte, sondern auch höflich und sprach Englisch mit einem amerikanischen Akzent. Lina deutete auf einen Stuhl. Ihr fiel auf, dass er braune Wildlederschuhe trug, die aussahen, als stammten sie von Fratelli Rossetti in New York. Ein sehr untypischer Sicherheitsbeamter.
«Ich dachte, wir unterhalten uns mal», sagte er. «Weil ich ja ganz neu hier bin und Sie jetzt schon seit – wie viel Jahren? – drei Jahren? – bei der Firma sind.»
«Gut», sagte Lina. «Reden wir.»
«Könnte ich mein Jackett ablegen?» Er zog das Jackett aus und hängte es vorsichtig über die Stuhllehne. Es war wirklich von Armani. Er war eine ganz schöne Abwechslung zu dem
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