Blutgesicht
Der schafft es wirklich, Menschen in seinen Bann zu ziehen, glauben Sie mir.«
»Er oder seine Bilder?« fragte Suko.
»Er mehr als die Bilder. Sie sind nicht so schaurig wie er aussieht. Das können Sie mir glauben, der sieht schaurig aus. So einem Menschen begegnet man nicht alle Tage. Wenn sie ihn sehen, dann erschrecken die meisten gleich. Es kann sich ja keiner malen, aber der Knabe sieht besonders schlimm aus.« Wir erhielten eine knappe, aber prägnante Beschreibung und nickten dazu. »Man kann Angst vor ihm bekommen. Der hat Augen, die den Namen gar nicht verdienen. Das sind Bohrstücke, die dir bis auf den Grund der Seele schauen, als wollten sie dich verändern, sezieren, wie auch immer.« Julia schüttelte den Kopf, als sie daran dachte. »Er zwingt einen Fremden dazu, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Das ist eben das Ungewöhnliche an ihm.«
»Furcht und Anziehung zugleich«, stellte ich fest.
»Klar, wenn Sie so wollen.«
»Was ist mit seinen Bildern?« fragte Suko.
»Man muß sie eben mögen.«
»Wieso?«
»Das ist schwer zu beantworten. Ich will auch keinem auf die Füße treten. Für mich malt er sehr konservativ.«
»Also konkret?«
»Ja, das stimmt. Nichts, was die Kunst weiterbringt. Das sind Bilder zum Betrachten. Werke für Menschen, die den detailgetreuen Realismus lieben. Caspar David Friedrich hat so gemalt und wurde damals verlacht. Denken Sie mal daran, was seine Bilder heute wert sind.« Sie lachte gegen den Himmel. »Von ihm können wir kein Bild bezahlen, denke ich, auch wenn wir zusammenwerfen.«
Suko fragte weiter. »Soll es da nicht noch ein Selbstbildnis von ihm geben?«
»Ach. Das wissen Sie auch?«
»Wir haben davon gehört.«
»Aber es nicht gesehen – oder?«
»Leider nein. Sie denn?«
»Ja, ja, das habe ich. Es war auch mehr ein Zufall und eine Folge meiner Neugierde. Bei meinem Besuch öffnete ich wirklich rein zufallig eine versteckte Tür, schaute in den Raum hinein und sah das Bild. Allerdings fehlte mir eine gewisse Menge Licht, um es genau anschauen zu können, doch was ich sah, das war schon ungewöhnlich.«
»Wieso?«
»Na ja, das ist schlecht zu erklären. Auch bei meinem kurzen Blick hatte ich den Eindruck, daß dieses Bild nicht grundlos versteckt wurde. Es strahlt etwas aus, verstehen Sie?«
»Nein«, sagte ich.
»Etwas Unheimliches oder Böses. Eine Aura, was immer Sie auch annehmen. Es war kein Vergnügen.«
»Und Sie haben sich das Bild nicht genauer angeschaut?«
»Das habe ich nicht, Mr. Sinclair. Ich hatte mich ja selbst darüber erschreckt, daß es mir gelang, die Tür zu öffnen. Auch fürchtete ich mich davor, daß man mich entdecken würde. Ich habe mich dann rasch zurückgezogen, aber das Bild nicht vergessen.«
»Nach dem Sie Lassalle heute hätten fragen wollen, nehme ich an.«
Sie nickte mir zu. »Klar. Heute hätte ich ihn gebeten, mir sein Selbstbildnis zu zeigen und es mir genauer zu erklären.« Wieder schaute sie zum Eingang. »Das wird nun nicht mehr möglich sein. Schade eigentlich.«
»Ist Ihnen denn noch etwas an diesem Bild aufgefallen?« wollte ich wissen. »Ich weiß, daß es schwer ist bei dieser kurzen Zeitspanne. Möglich wäre es ja.«
»Worauf wollen Sie denn hinaus? Auf etwas Bestimmtes?«
»Nicht direkt.«
»Dann kann ich Ihnen auch nichts sagen, tut mir leid.« Sie lächelte uns an, doch es wirkte nicht echt. »Allmählich habe ich das Gefühl, daß Sie beide mir hier etwas vorspielen. Sie sind nicht so harmlos wie sie scheinen, meine ich. Das habe ich in der Nase, und die hat mich so gut wie nie enttäuscht. Sie wissen mehr über Nathan Lassalle, als Sie mir gegenüber zugegeben haben.«
Ich schüttelte den Kopf. »So dürfen Sie das nicht sehen, Julia. Wir wollten in die Ausstellung.«
»Doch nicht als normale Besucher.«
»Irgendwie schon.«
»Mehr als Polizisten, wie?« Sie hatte uns erwischt. Es halfen auch keine Ausreden, denn sie erklärte uns noch einmal mit Nachdruck, daß sie uns für Polizisten hielt. Dabei würde sie auch bleiben.
Schließlich stimmten wir zu. Julia fragte sofort: »Was hat der Typ denn verbrochen?«
»Nichts«, erklärte Suko. »Wir haben uns nur mit ihm unterhalten wollen.«
»So grundlos?«
»Fast. Es geht uns um das Selbstbildnis. Das möchten wir genauer unter die Lupe nehmen und auch mit ihm darüber sprechen.«
»Wau«, flüsterte sie, »das erstaunt mich schon, ehrlich. Bullen, die sich um ein Bild kümmern, als wäre es ein Verbrecher?«
»So schlimm ist es
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