Blutherz - Wallner, M: Blutherz
aber ihr Körper gehorchte nicht, war gelähmt von den Bildern, die ihr so wirklich erschienen waren, wie kein Traum es je vorzugaukeln vermochte. Samantha fühlte sich weiter umfangen vom Schauplatz des Grauens, sah die Kirchenburg inmitten der verschneiten Landschaft, die widernatürlichen Mönche, den Opferstein und darauf sich selbst; in ihrer Phantasie durchlebte sie das ganze schreckliche Ritual noch einmal.
Endlich gelang es ihr, Gegenstände im Zimmer auszumachen, den baumelnden Galgen, die gestapelten Nachttische, die ausrangierte OP-Lampe über sich. Ihr Blick fiel auf das leuchtende EXIT-Zeichen. Das piktografierte Männchen war auf der Flucht, es rannte, aber wohin? Mühevoll, wie nach langer Krankheit, setzte Samantha sich auf, stellte die Füße zu Boden, fühlte den kalten Kunststoff unter den Sohlen und schwankte zum Waschbecken. Seltsam, wie wenig von dem erlebten Schock sich in ihrem Gesicht widerspiegelte. Ein schlaftrunkenes, zerstrubbeltes Mädchen stand ihr gegenüber, dessen Bauch unter der Schlafanzugjacke spannte. Sie steckte ihr Haar hoch und wusch das Gesicht mit kaltem Wasser. Sie konnte sich unmöglich wieder schlafen legen. Die Uhr stand auf kurz vor 5:00, Sam zog sich an, fuhr ins Erdgeschoss und lief in die Nacht hinaus. Sie wollte nicht denken, keine Schlüsse aus ihrem Traum ziehen, Samantha wollte nichts, als sich am Leben spüren. Sie lief die Fulham Road stadtauswärts; selbst um diese Zeit war der Verkehr lebhaft. Sie sah ihre Beine unter sich ausschreiten, hörte ihren Atem, die kalte frische Luft tat gut. Sie warf die Arme in die Höhe, stieß kleine Schreie aus und fühlte sich nach einer Weile endlich wieder als Wesen von
dieser Welt, aus dieser Stadt, ein junges Mädchen, das einen üblen Traum verscheucht hatte.
25
S amantha erfuhr es bei Dienstantritt: Noch in den Morgenstunden sollte Andrew operiert werden; überraschend hatte sich eine Spenderniere gefunden. Sir Kennock war bereits dabei, sie aus dem Verstorbenen zu explantieren. Die Station wurde von jener hektischen Konzentration erfasst, wie Sam sie vor großen Operationen mehrmals erlebt hatte. Auch wenn sie sich für Andrew freute, ging sie nicht gleich zu ihm, sondern als Erstes zu Tante Margret.
»Ist das bei Andrews seltener Blutgruppe nicht ein außergewöhnlicher Zufall?« Die Oberschwester saß vor dem Computer. Auf ihren erstaunten Blick hin erklärte Sam: »Schon der zweite Spender in so kurzer Zeit? Woher ist diese Niere so plötzlich aufgetaucht?«
»Die Datenbank hat sie uns zugewiesen. Was soll daran ungewöhnlich sein?«
»Und der Spender … oder die Spenderin – woher stammt der?«
Ungeduldig drehte die Tante sich um. »Ich weiß, wie sehr Andrew dir am Herzen liegt, aber ich habe alle Hände voll zu tun, um das Organ korrekt zu registrieren, bevor wir operieren.« Neugierig trat Sam an den Bildschirm heran. »Die Daten sind vertraulich.« Margret drehte den Monitor zur Seite.
Doch diese Sekunde hatte ausgereicht: Der Name des Spenders lautete Gregory Bull. »Woran ist Mr Bull gestorben?«
Die Oberschwester wurde ärgerlich. »Hast du schon deine Frühstückstabletts verteilt?«
»Frühstück serviert, Bettpfannen geleert, Kissen aufgeschüttelt.« Sam setzte eine bittende Miene auf. »Tante Margret. Ich bin Lernschwester. Wie soll ich was Richtiges lernen, wenn du mich nur die Betten machen lässt?«
Nach kurzem Zögern gab Margret den Bildschirm frei. »Also schön. Mister Bull war neunundzwanzig Jahre alt und hatte …«
»So jung?«
»Je jünger das Organ ist, desto besser.«
»Was für eine Krankheit hatte er?«
»Krankheit?« Die Tante scrollte zu der Stelle, wo Todesursache und Todeszeit standen. »Nein, der Mann hatte einen Unfall. Heute früh um 5:20 fuhr Mr Bull mit seinem Motorrad gegen einen Baum. Man brachte ihn auf die Unfallstation, dort starb er.«
»Motorrad?« Der Umstand erinnerte Sam an etwas. Wie ein Schock durchfuhr sie jedoch ein anderer Gedanke: Wie hatte Teddie ihr bereits vor zwei Tagen die Niere für Andrew ankündigen können, obwohl der Spender erst vergangene Nacht gestorben war? Ein Unfall um fünf Uhr früh – wer fuhr um diese Zeit mit dem Motorrad durch Nacht und Nebel?
»Wo ist die Leiche?«
»Wir hatten Glück. Mr Bull lebt hier in London. Er wurde vom Unfallort direkt ins Chelsea and Westminster transportiert. Sir Kennock vollzieht die Explantation hier im Haus.«
Sam war so gut wie sicher, dass diese Sache mit Glück nichts zu tun hatte.
Weitere Kostenlose Bücher