Blutherz - Wallner, M: Blutherz
Beginn bist du klein und schutzlos«, sagte Sam zu dem Wesen in sich. Wie musste sie das Baby ernähren, brauchte es zuerst Muttermilch oder von Anfang an Blut? Welchen Namen
gab man einem kleinen Vampir, wie könnte sie ihn nennen? Ohne es zu bemerken, hob sie den linken Fuß aus dem Wasser. Samantha öffnete ihre Jacke. Was für ein kräftiger Bursche er war; selbstvergessen strich sie über ihren runden Bauch. Ihr Blick suchte Richard. Gefangen zwischen Entschlusslosigkeit und Verzweiflung, stand er einige Schritte entfernt am Ufer.
»Warum warte ich nicht einfach, bis der Junge auf der Welt ist?«, rief sie ihm zu.
Er schüttelte bloß den Kopf. Sam aber staunte, wieso sie die Idee nicht früher gehabt hatte. War ihr Sohn erst geboren, stellte er keine körperliche Bedrohung mehr für sie dar. Und danach – warum sollten Teddie und der Clan ihr etwas antun? Brauchten sie nicht eine gesunde Mutter, die sich um das Baby kümmerte? Mit einem Mal kam Sam ihre Situation gar nicht mehr so hoffnungslos vor. Teddie war zwar ein Vampir, aber er liebte sie und er freute sich auf sein Kind. An diesem ungemütlichen Ort, am nebeligen Ufer der Themse, musste Samantha auf einmal lachen. Wäre es nicht verrückt, mit Teddie loszuziehen, um Babysachen für einen Vampir auszusuchen?
Schaudernd erinnerte sie sich daran, dass sie noch vor ein paar Sekunden erwogen hatte, sich und ihr Kind umzubringen. Und jetzt dachte sie bereits über die Frage der richtigen Babyausstattung nach.
»Es gibt bestimmt eine Lösung.« Zwei große Schritte hinauf und sie hatte die Treppe unter sich gelassen. Das Leben war irrwitzig, das Leben war lebensgefährlich; aber es war immer noch besser als der Tod.
»Komm.« Sie nahm Richards Hand. »Meine Füße sind eisig. Lass uns gehen, sonst hole ich mir zu allem Übel noch eine Erkältung.« Sie zog den Vampir weiter, hinein in den Nebel. Ihre
Schritte waren noch zu hören, als die beiden sich schon lange im milchigen Dunst verloren hatten.
24
S am lag auf dem eiskalten Steinblock, ihre Gliedmaßen waren nach vier Richtungen ausgestreckt und Seile daran festgebunden. Jedes Seil wurde von einem Mönch straff gehalten, sie konnte nichts als den Kopf bewegen. Sie fragte nicht nach einer Erklärung, sah sich nur um. Dieser Ort hatte mit einer Kirche, jedenfalls einer, wie ihr Vater sie verwaltete, nichts zu tun. Und doch kam es ihr vor, als befinde sie sich in einem Gotteshaus. Durch tiefen Schnee war sie hierhergebracht worden, hatte davor eine düstere, kahle Landschaft vorbeiziehen sehen, bis sich vor ihr im eisigen Licht die Umrisse eines gewaltigen Bauwerkes abgezeichnet hatten. Samantha kannte Schlösser und Burgen aus ihrer Heimat, diese Festung aber wirkte bedrohlich und zugleich uneinnehmbar. Das erste Tor war durch eine Zugbrücke und spitze Gitter gesichert gewesen, seine Mauern waren mehrere Meter dick. Das zweite Tor bestand ganz aus Eisen. Erst nach dem Passieren des dritten, mit Menschenschädeln bestückten Tors war das Hauptgebäude aufgetaucht, eine befestigte Kirche. Mönche hatten sie in Empfang genommen, sie vollständig entkleidet und ihren hochschwangeren Körper auf dem steinernen Altar ausgebreitet.
Auch wenn im Qualm der Kerzen alles nur schemenhaft zu erkennen war, entdeckte Sam über sich eine Kanzel, bullig und drohend, aus einem einzigen Stein gemeißelt. Auf dieser Empore stand eine Figur. Sie war nicht von Licht, sondern von
Dunkelheit umstrahlt. Samantha vermochte es nicht anders zu beschreiben: Das Wesen dort oben leuchtete wie ein schwarzer Diamant. Weder konnte sie seine Züge noch sein Gewand erkennen, doch seine Aura erfüllte die Liegende mit der Gewissheit, dass sich in ihm höchste Grausamkeit mit uraltem Wissen verband. Sam hatte keinen Zweifel daran, dass sie hier aufgebahrt lag, um zu gebären. Sie sollte sich öffnen und die Frucht ihres Leibes darbringen, auf diesem Altar, der nicht dem Gott der Christenheit geweiht war. Und doch sah sie sich umgeben von vertrauten kirchlichen Einrichtungen. Über ihrem Kopf erhob sich ein geschnitztes Chorgestühl; in die Säulen, die das Gewölbe trugen, waren Figuren von Märtyrern eingemeißelt, deren Leiden aufs Plastischste dargestellt waren. Nur eines konnte Sam nirgends entdecken: das Symbol des Kreuzes. Zuerst hatte sie die Musik für Frauengesang gehalten, doch diese Stimmen gelangten in eine Höhe, die menschlichen Wesen nicht mehr zuzuordnen war. Hinter den Mönchen, die Sam festhielten, zeichneten sich die
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