Blutherz - Wallner, M: Blutherz
»Danke, Tante. Ich lasse dich jetzt wieder arbeiten.« Nachdenklich verließ sie das Büro und ging in Andrews Zimmer. Der Junge hatte bereits ein Beruhigungsmittel bekommen; aus müden Augen sah er seine Freundin an.
»Heute ist dein großer Tag.« Sie setzte sich zu ihm.
»Wirst du da sein, wenn ich wieder zu mir komme?« Seine kleine Hand tauchte über der Bettdecke auf.
Sam drückte sie. »Klar bin ich hier. Ich will doch wissen, wie sich das anfühlt, eine brandneue Niere zu haben.«
»Sie sagen mir nicht, von wem ich sie bekomme. Weißt du es denn?«
»Ich?« Sie lachte etwas zu laut. »Ich bin hier Anfängerin. Mir sagen die gar nichts.« Noch während sie sprachen, spürte Sam, wie Andrews Hand erschlaffte, er war friedlich eingeschlafen.
Wenig später versammelte sich das Team im OP. Sam beobachtete, wie der Junge in seinem Bett durch den Korridor gerollt wurde und in der aseptischen Schleuse verschwand. Gleich darauf rauschte Sir Kennock in der blauen Chirurgenmontur vorbei; auf einem Wagen brachte Tante Margret die Kühlbox mit dem Transplantat hinterher. Die Türen zum Allerheiligsten schlossen sich. Samantha schickte ein stilles Gebet zum Himmel, dass die Operation gut verlaufen möge. Dann überlegte sie. Normalerweise wurde die Leiche eines gerade Verstorbenen in die pathologische Abteilung geschafft, wo man sie aufbewahrte, bis der Pathologe sie zur Bestattung freigab. Da es bei Organspenden aber schnell gehen musste, war Sam sicher, der tote Mr Bull befand sich noch in Sir Kennocks Bereich. Ein Stockwerk tiefer hatten sie einen dafür vorgesehenen Raum. Sam nahm die Treppe und vergewisserte sich, dass sonst niemand hier unten war. Die Neonbeleuchtung ging an, einen Moment stand sie still. Sie ahnte, was sich in dem länglichen Kunststoffbehälter befand. An der Wand hing eine Box mit Latexhandschuhen, Sam zog ein Paar heraus, stülpte sie über und öffnete vorsichtig den Deckel.
Zu Beginn ihrer Ausbildung war sie auf der Anatomie gewesen,
wo den Lernschwestern konservierte Leichenteile gezeigt worden waren. Dieser Mann hatte noch vor wenigen Stunden am Leben teilgenommen; Sam brauchte einen Moment, um den Anblick zu verkraften. Seltsamerweise lag er auf dem Bauch. Ihr fiel ein, dass man die Niere meist von hinten, über den Rücken entnahm. Dort entdeckte sie einen langen Schnitt, der mit wenigen Stichen zugenäht worden war. Ein Teil des Körpers war mit einem grünen Laken bedeckt, beherzt zog Sam es beseite. Ein muskulöser junger Mann mit lockigem Haar tauchte auf, die Haut gebräunt und straff. Sie berührte seine Schulter; er fühlte sich noch nicht kalt an, doch die Totenstarre setzte bereits ein. Und jetzt? Sie überlegte. Was suchst du, was willst du beweisen? Sam beugte sich über Mr Bulls Hals und tastete die Aorta auf beiden Seiten ab; dort war nichts zu entdecken. Sie hob die rechte Hand hoch, sein Handgelenk war unversehrt, ebenso das linke. Während sie die gleiche Untersuchung an den Füßen vornahm, fragte sie sich, an welcher Verletzung der Motorradfahrer eigentlich gestorben war. Als sie weiterhin nichts fand, wodurch sich ihr Verdacht erhärtete, blieb ihr nichts übrig, als den Mann umzudrehen. Es war ein schauderhafter Anblick. Bei dem Aufprall war Mr Bull offenbar der Helm vom Kopf gerissen worden, seine Stirn war zerschmettert. Trotz der Verunstaltung erkannte man noch seinen auffallenden Schnurrbart; er hatte ihn lang wachsen lassen und an den Spitzen gezwirbelt. Sam riss sich zusammen und begann, Brust und Bauch abzusuchen. Weshalb ist sein Brustkorb nicht geöffnet worden?, fragte sie sich. Bei einem Spender mit seltener Blutgruppe wurden meist mehrere Organe entnommen.
Plötzlich sah sie die Wunde. Sie war so unauffällig, dass man nur darauf stieß, wenn man sie suchte. Auf der Innenseite von Mr Bulls Oberschenkel befanden sich zwei Einstiche. Sie hätten
von einer Injektionsnadel herrühren oder auch Zeckenbisse sein können. Samantha wusste es besser. Ihre Hand glitt über die Stelle: Die Verletzungen saßen über der Arteria femoralis , der großen Oberschenkelarterie, die das Bein mit Blut versorgte. »Hier haben sie dich also angezapft.«
Vor sich hatte Samantha den Beweis, dass ihr Geliebter seinen Beruf missbrauchte, um an das Blut von frisch Verstorbenen zu kommen. Wann und unter welchen Umständen Teddie Mr Bulls Blut getrunken hatte, wusste sie nicht; es spielte auch keine Rolle. Das Gute, das er tat, indem er Andrew zu einer neuen Niere verhalf,
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