Bluthochzeit in Prag
über Lucek und Pilny?« fragte sie dann mit pfeifendem Atem. Sie umklammerte die Hände der Studenten und begann zu zittern. »Kinder, sagt es mir. Karel war doch mein zweiter Sohn. Wo ist er? Geht es ihm gut? Wo hält er sich versteckt? Kann ich ihm einen Kuchen schicken? Was wißt ihr, Kinderchen?«
»Nichts.« Die Studenten senkten die Köpfe. »Nicht mehr als Sie. Karel und Micha sind verschwunden –«
In der Nacht verteilte Frau Plachová die frisch gedruckten Flugblätter aus der unterirdischen Druckerei in den Straßen der Prager Altstadt.
*
Mitten in der Nacht holte man Oberst Tschernowskij aus dem Bett. Ein Leutnant der Wache, die das beschlagnahmte Hotel abschirmte und auch den Posten vor dem Zimmer der Kysaskaja stellte, stand blaß draußen auf dem Flur. In dieser Minute hätte er reich sein können wie die sagenhaften Stroganoffs … niemand würde ihn beneidet haben.
»Was ist los?« fragte Tschernowskij. Er trug einen seidenen Morgenmantel mit persischem Muster. Sein Pyjama darunter war hellbraun mit dünnen weißen Streifen. Ein Modell aus Rom.
Der junge Leutnant schluckte. Angst stand in seinen Augen.
»Zimmer 19 ist leer, Genosse Oberst.«
Tschernowskij war es, als stehe er im Zentrum eines Erdbebens. Genauso benahm er sich auch, stieß den Offizier zur Seite und rannte den Gang hinunter. Die Tür von Nr. 19 stand offen. Alle Lichter brannten, zwei Rotarmisten hielten neben dem leeren, unbenutzten Bett Wache, während ein Sergeant am offenen Fenster stand und sehr unglücklich vor sich hinblickte.
»Wir haben nichts gehört, Genosse Oberst«, sagte er, bevor Tschernowskij losbrüllen konnte. »Keinen Laut. Auch die Wachen unten auf der Straße haben nichts bemerkt. Und das ist merkwürdig. Wenn ein Mädchen aus dem Fenster klettert, fällt das doch auf. Es ist immerhin das vierte Stockwerk, Genosse Oberst. Man muß schon ein Eichhörnchen sein, um die glatte Wand hinunterzukommen. Es ist alles rätselhaft –«
Tschernowskij war außer sich. Er schrie die Soldaten an, nannte sie Kanaillen, Latrinenputzer, Verräter und Scheißhaufen und drohte ihnen mit einem Militärgerichtsverfahren wegen Schlafens im Dienst. Aber was half's? Valentina Kysaskaja hatte das Hotel auf außergewöhnliche Weise verlassen, und niemand hatte es gesehen.
Die Rekonstruktion ihres Fluchtweges war einfach. Sie hatte ein Laken zerrissen und die Teile zusammengeknüpft. Daran hatte sie sich bis zur nächsten Etage hinuntergelassen. Dort waren die Büros des KGB untergebracht, und bei Nacht standen die Fenster offen – am Tag wurde pausenlos geraucht, also mußte nachts gelüftet werden. Durch die leeren Büros schien Valentina auf eine Lieferantentreppe gelangt zu sein und von dort zu einem Hinterausgang. Die sonst von innen versperrte Tür stand offen.
Tschernowskij war nahe daran, alles kurz und klein zu schlagen.
»So einfach ist das! So einfach!« brüllte er, als alles geklärt war. »Dafür habe ich eine Kompanie Soldaten hier! Es ist zum Kotzen!«
Er jagte alle aus dem Zimmer 19 und schloß sich ein. Wo sollte er sie jetzt suchen? Und die große Frage: Wohin war sie überhaupt geflüchtet? Kannte sie doch den Weg zu Lucek? Er ließ sich nach hinten auf Valentinas Bett fallen und preßte die Fäuste auf seine Brust. Duloban, der Mongole … das war eine Hoffnung. Die letzte vielleicht. Gab es unter den Studenten jemanden, der den Aufenthalt Luceks kannte … Duloban würde ihn zum Sprechen bringen.
Er sprang auf, griff zum Telefon und rief die Nachtbereitschaft des Geheimdienstes an.
»Hier Tschernowskij«, sagte er. »Schmeißt Duloban aus dem Bett! Er soll mit den Verhören der vier Studenten beginnen. Sofort! Bis neun Uhr früh will ich wissen, wo Michael Lucek und Karel Pilny sind. Wenn die vier keine Ahnung haben, sollen sie Leute nennen, die besser informiert sind.«
Er legte auf und ließ sich wieder aufs Bett zurückfallen. Mit geschlossenen Augen atmete er den Geruch Valentinas ein, das Parfüm, das er ihr am zweiten Tag ihrer Haft geschenkt hatte, ein Duft, der ihn an Athen erinnerte, wo er Valentina Kysaskaja zum ersten Mal begegnete. Sie kam frisch von der Agentenschule und meldete sich in der sowjetischen Botschaft zu ihrem ersten Einsatz.
Tschernowskij seufzte. Er tastete unter das Kopfkissen, zog ein hauchdünnes Negligé hervor – auch das hatte er vorgestern im besten Wäschegeschäft Prags kaufen lassen – und hielt es mit beiden Händen empor. Er sah Valentinas Körper in diesem
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