Bluthochzeit in Prag
Hebel auf Sendung:
»Hier lastotschka … hier lastotschka … lastotschka … bitte melden … bitte melden …«
Valentina hatte eine bewundernswerte Geduld. Eine halbe Stunde schon funkte sie ununterbrochen diesen Ruf nach Moskau, bis endlich die Antwort in ihrem Kopfhörer zirpte.
»Höre –«
Oberst Tschernowskij starrte ungläubig auf den Zettel, den ihm der Dechiffrierer zuschob.
Erbitte sofortige Intervention bei politischer Polizei Prag. Verhaftet wurde Irena Dolgan. Schnellste Freilassung erforderlich. Irena ist eine Schlüsselfigur, die ich noch brauche. Ohne sie wäre Pilny ausgeschaltet. Veranlaßt sofortige Freilassung.
Tschernowskij legte das Blatt weg und starrte auf die verwirrend komplizierte Sendeapparatur. In dem riesigen Raum mit den langen Sitzreihen summte und brummte und tickte es. Hier kam die ganze Welt zusammen, hier wurden die Geheimnisse der Völker hörbar.
»Antworten Sie«, sagte Tschernowskij knurrend. »An lastotschka … Es ist unmöglich, ohne politische Komplikationen in die inneren Angelegenheiten der CSSR einzugreifen. Ich befehle Ihnen, mit der planmäßigen Maschine, Flug 34, nach Moskau zurückzukommen!«
Die Antwort aus Prag verblüffte ihn. Auch der Übersetzer machte große Augen. Was ist denn das, fragte sein Blick. Da weigerte sich jemand, einem Befehl aus Moskau zu gehorchen?
Rückkehr unmöglich. Auftrag fast erfüllt. Endgültige Erfüllung nur möglich nach Freilassung von Irena Dolgan. Moskau muß auf Freilassung einwirken! Ende.
Das Zirpen aus Prag verstummte. Valentina legte keinen Wert mehr auf eine neue Antwort Tschernowskijs.
Wie gesagt – an diesem Vormittag geschahen wunderliche Dinge.
In Prag empfing der Chef der politischen Polizei den Anruf eines sowjetischen Offiziers. Der Offizier gehörte einer die Manöver vorbereitenden Delegation an und hatte an den Polizeichef im Namen Moskaus eine kleine Bitte …
Um 14 Uhr rasselte der Schlüssel in der Zellentür Irenas. Zwei Zivilisten betraten die Zelle, fragten, ob sie Irena Dolgan sei, winkten, mitzukommen, führten Irena wieder durch lange Gänge und über Treppen aus dem Haus, schoben sie nach draußen auf die Straße und warfen hinter ihr die Tür zu. Das alles geschah ohne Worte, ohne Erklärungen … man gab ihr einen Stoß in den Rücken, und frei war Irena Dolgan.
»Ich verstehe das alles nicht«, sagte Lucek später nachdenklich im Druckkeller. »Das hat alles keinen Sinn mehr. Dr. Hruska hat den Chef bis jetzt noch nicht sprechen können, und trotzdem hat man dich plötzlich freigelassen. Das muß etwas bedeuten. Bist du sicher, daß dir niemand gefolgt ist? Himmel noch mal, wenn sie dich bloß als Hasen losgelassen haben, der in seinen Bau laufen soll, und nun kommen die Jäger hinterher.«
»Es ist mir niemand gefolgt. Ich bin auf zwei Straßenbahnen gesprungen und habe mich dann an einen Lastwagen gehängt.« Irena saß erschöpft in einem alten, zerschlissenen Sessel. Pilny hatte ihren Kopf zwischen seine Hände genommen und drückte ihn an seine Brust. Er war stumm vor Glück.
Am Tisch saß Valentina Kysaskaja und rauchte eine Zigarette. Im Licht der nackten Glühbirne glänzte ihr schwarzes, offen getragenes Haar. Sie trug jetzt eine enge Cordhose und einen grauen, einfachen Pullover. Die Uniform der Anonymität. Durch den Rauch ihrer Zigarette beobachtete sie Lucek, wie er unruhig hin und her ging.
Sie merkte nicht, wie ihre Hand jedesmal zitterte, wenn sie die Zigarette an die Lippen führte und einen tiefen Zug tat.
Ihn soll ich ausliefern, dachte sie. Ihn?
*
Während an der polnischen und ungarischen Grenze und jenseits des Erzgebirges in der DDR die sowjetischen und verbündeten Divisionen aufmarschierten, aus der Tiefe der Länder die Panzer heranrollten und im Stabe des in Prag eingetroffenen Marschalls Jakubowski die CSSR bis in die letzten Winkel des Böhmerwaldes und der Hohen Tatra als Aufmarschgebiet aufgeteilt wurde, erschien in Prag das Flugblatt Karel Pilnys: ›Wird unser Land jetzt vergewaltigt?‹
Die Stimmung in der Tschechoslowakei war gespannt. Unruhe machte sich breit, die Stimmen, die von sowjetischen Pressionen sprachen, wurden lauter.
War es nur ein Manöver, das am 1. Juli beendet werden sollte? War alle Furcht nur künstlich hochgetrieben von westlich inspirierten Intellektuellen? Oder blieben die Sowjets im Land, nun, wo sie einmal hier waren und wiederholten, nur eleganter diesmal, ein zweites Ungarn?
Am 20. Juni begannen die Panzer zu
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