Blutige Asche Roman
Fahrersitz saß und den Motor anlassen wollte.
Ich drehte mich um. Sah das weiße Gesichtchen mit dem
ernsten Blick. Ich brach in Tränen aus. Weil ich begriff, dass er Recht hatte.
Wir aßen Rührei und Gurkenscheiben. Anschließend betrachteten wir das Aquarium, legten ein Haipuzzle, und ich las ihm aus dem Fischlexikon vor. Als Aron im Bett lag, fiel mir unser gemeinsamer Teneriffaurlaub vor ein paar Jahren wieder ein. Ganze Tage hatten wir zusammen in der Brandung gesessen. Wir suchten Muscheln und bauten Sandburgen. Wir ließen uns von den Wellen mitreißen. Und wenn er am Ende des Tages anfing zu kreischen, weil er nicht zurück aufs Hotelzimmer wollte, nahm ich ihn einfach auf den Arm, kitzelte ihn und sagte, »He, du verrückter Fratz! Ich freue mich, dass du so einen schönen Tag hattest und deshalb wütend wirst, weil wir zurückmüssen. Aber weißt du was? Wir kommen morgen wieder her.«
Damals war ich wirklich glücklich gewesen. Ich hatte mich sogar wie eine gute Mutter gefühlt. Ich nahm mir vor, bald wieder mit ihm in Ferien zu fahren. Eigentlich blöd, dass ich das nicht schon längst getan hatte. Vielleicht konnten wir bald einen Last-Minute-Flug nehmen.
Wie hatte sich meine Mutter gefühlt, als sie Ray ins Heim gab? Wie ein Muttertier, das ihr eigenes Junges verstößt? Oder war sie traurig gewesen?
Obwohl es mir nicht gerade leichtfiel, Mutter zu sein, könnte ich Aron nie weggeben. Weil ich ihn liebte, aber auch, weil ich die Schuldgefühle nicht ertragen würde. War Mutterliebe etwa bloß eine Form des Stockholmsyndroms?
Vielleicht beneidete ich meine Mutter auch einfach nur um die Teflonschicht auf ihrer Seele.
Ich las mir noch einmal die Zeitungsausschnitte über Ray durch. Ich fand kaum Informationen über ihn, nur, dass er seinen Nachbarn zufolge einsam und kontaktgestört war. Und dass er in einer Bäckerei gearbeitet hatte.
»Meist lief er einfach an einem vorbei«, hatte eine Nachbarin in einem Interview mit De Telegraaf gesagt. »Selbst, wenn man ihn grüßte.«
Die Einzige, zu der er Kontakt gehabt hatte, war Rosita gewesen. Ich betrachtete ein Foto von ihr. Eine südländisch aussehende Frau mit einem breiten Mund und wilden Locken. Eine klassische Schönheit war sie nicht, aber sexy. Und dann ihre Tochter. Im Gegensatz zu ihrer Mutter hatte sie hellblondes Haar. Während Rosita herausfordernd in die Kamera lachte, wirkte Anna eher in sich gekehrt.
Ich las mir die Geschichte über den Mord noch mal durch. Ray hatte seine Nachbarin und das Nachbarkind mit einem scharfen Gegenstand abgeschlachtet und danach gemütlich eine geraucht. Es lag Asche auf den Leichen, und die Zigarette war auf dem Arm des kleinen Mädchens ausgedrückt worden. Was hatte das zu bedeuten? Erst dieser brutale Ausbruch von Gewalt und dann das kaltblütige Rauchen. Ich beschwor Rays Gesicht herauf, versuchte mir vorzustellen, dass er zu so etwas fähig wäre. Ray, der so gewissenhaft Logbuch führte und die Augen schloss, wenn er über seine Fische sprach. Er konnte es nicht gewesen sein. Das passte einfach nicht zu ihm.
Ich hatte eine Vision, dass ich den wirklichen Mörder fände, Ray aus der Psychiatrie befreite und wir alle glücklich würden. Aber es gibt keine Märchen.
24
»Um elf Uhr ist Drogenkontrolle«, sagte der Soziotherapeut mit der Brille beim Frühstück.
Ich strich Honig auf die pappige Scheibe Industriebrot. Ich sehnte mich nach einem pain de boulogne mit knuspriger Kruste, einem luftigen Innern und dem frischen, säuerlichen Geschmack. Das würde ich mit Rahmbutter bestreichen. Mehr braucht gutes Brot nicht.
Er seufzte gereizt. »Kannst du mich anschauen und mir wenigstens bestätigen, dass du gehört hast, was ich gerade gesagt habe?«
Ich hob den Kopf. »Ja.«
»Ja, was?«
»Ich habe es gehört.«
»Ich hol dich um fünf vor elf ab. Dann gehen wir zusammen auf die medizinische Station. Da sollst du pinkeln, genau wie damals, als du herkamst.«
Mein Messer fiel auf den Tisch. Ich sollte wieder pinkeln, während die Frau dabei war. Die Frau mit dem bohrenden Blick, die nichts Besseres zu tun hatte, als mir auf den Pimmel zu starren. Frauen ließen einen fallen, behaupteten, deine Schwester zu sein, lachten dich aus, taten so, als ob sie dich mögen würden, und demütigten dich. Sofort bekam ich keinen Bissen mehr herunter.
»Nervös?«, fragte Henk. Er sah sich vorsichtig um und fuhr flüsternd fort: »Du musst Wasser trinken. Mindestens
drei Liter. Dann ist dein
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