Blutige Asche Roman
geraten hatte, wenn jemand weinte. Es dauerte einen Moment, bis es mir wieder einfiel. Man musste Interesse zeigen.
»Was hast du nur?«
»Meine Güte!« Das Mädchen, das immer dienstags aushalf, stand plötzlich neben uns, ohne dass ich es hatte kommen hören. »Was soll denn das?« Sie nahm Anna auf den Arm. »Was ist denn passiert, Mädchen?«
»Ray war böse«, sagte Anna.
»Das stimmt doch gar nicht.«
»Was habt ihr nur beim Klimaschrank zu suchen? Was soll das Theater? Was hat Ray getan?«, fragte sie Anna anschließend.
»Böse«, sagte sie.
»Weiß ihre Mutter, dass sie hier ist?« Das Mädchen sah mich misstrauisch an.
»Ja. Nicht, dass sie hier ist, aber dass sie bei mir ist.«
»Ray ist böse«, sagte Anna. Aber sie weinte nicht mehr und streckte die Arme nach mir aus.
Ich nahm sie dem Mädchen ab und drehte mich weg, damit es Anna nicht mehr anfassen konnte.
»Ich finde das komisch. Kleine Mädchen am Klimaschrank. Das ist doch nicht normal.« Das Mädchen stemmte die Hände in die Hüften. Ihre Anwesenheit störte mich.
»Wir müssen jetzt die Tür zumachen, sonst stimmt die Temperatur nicht mehr. Und falls du es noch nicht weißt: Die Backstube ist mein Reich. Bleib in deinem Laden.«
»Du darfst nie normale Menschen in die Backstube lassen«, hatte Pierre immer gesagt. »Die haben keine Ahnung, wie empfindlich die Backprozesse sind. Nicht die leiseste Ahnung. Sie trampeln bloß überall herum und beschmutzen alles mit ihren dreckigen Fingern.«
Das Mädchen schnaubte, als hätte es sich auf einmal schwer erkältet, und ging.
31
Renzo de Winter, der damals die Ermittlungen geleitet hatte, war offensichtlich nicht scharf darauf, mich zu treffen.
»Ich kann Ihnen versichern, dass wir sorgfältig ermittelt haben. Alle Fakten weisen eindeutig auf Ihren Mandanten hin. Ich weiß nicht, was Sie da noch finden wollen. Außerdem muss ich Ihnen wohl nicht erklären, dass ich nicht befugt bin, Ihnen ohne Anweisung der Staatsanwaltschaft Auskunft zu geben.«
»Trotzdem wüsste ich es sehr zu schätzen, wenn wir uns treffen könnten. Mir ist klar, dass Sie mir offiziell nichts sagen dürfen, aber ein zwangloses Gespräch müsste doch möglich sein?«
Ich ließ den Bürostuhl kreiseln und sah aus dem Fenster. Ein junges Paar fuhr mit dem Rad Hand in Hand die Straße entlang. Es sah glücklich aus.
Am anderen Ende der Leitung ließ Renzo de Winter ein tiefes Seufzen hören.
»Bitte.«
»Also gut. Aber ganz inoffiziell.«
»Gut. Sehr gut.«
Die Fahrt nach Amersfoort war die reinste Katastrophe. Auf der A 1 hatte es einen Unfall gegeben, so dass die rechte Spur gesperrt war. Mit einer halben Stunde Verspätung erreichte ich das Polizeirevier, auf dem Renzo de Winter arbeitete.
»Jetzt ist er schon wieder in einer anderen Besprechung«, sagte die Frau hinter dem Tresen. »Aber Sie können natürlich kurz warten, bis er fertig ist.«
Ich durfte auf einem Plastikstuhl in einem Warteraum Platz nehmen. An der Wand hingen Plakate mit Texten wie: Auto abgeschlossen? Wertsachen raus! Auf einem der Schalensitze saß eine Frau mit strähnigem braunen Haar und verlaufener Wimperntusche. Ich nickte ihr freundlich zu, nahm eine Broschüre zum Thema Opferhilfe vom Beistelltisch und blätterte sie durch. Hoffentlich dauerte es nicht mehr lange, bis Renzo de Winter Zeit für mich hatte.
»Manchmal fühl ich mich so richtig angepisst vom Leben.«
»Wie bitte?« Ich sah die Frau an, aber sie starrte aus dem Fenster, als wäre ich gar nicht da.
»Als ob mir jemand auf Schritt und Tritt folgt und bei allem, was ich tu, einen Eimer Pisse über mir ausschüttet und sagt: ›Haha, ätsch! Ein netter Versuch, aber du wirst es sowieso nie schaffen.‹«
»Oh.«
Jetzt sah mich die Frau an. Sie hatte unerwartet hell leuchtende Augen, in einem bleichen, fleckigen Gesicht. »Können Sie das verstehen?«
»Man hat’s nicht immer leicht im Leben«, sagte ich in einem möglichst neutralen Ton. Ich konzentrierte mich wieder auf die Broschüre. Sie handelte von den traumatischen Folgen, die ein Verbrechen haben kann: Alpträume, Wutanfälle, Angstzustände, aber auch Schuldgefühle. Das Schlimmste seien die Schuldgefühle, aber das musste man mir nicht extra erklären.
»Nicht immer leicht«, äffte sie mich nach. Hoffentlich
ließ Renzo de Winter nicht mehr lange auf sich warten. »Erzählen Sie doch mal. Wie ist das so, wenn man ›es geschafft‹ hat?«
Ich sah sie überrascht an.
»Sie brauchen mich gar
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