Blutige Rosen
umklammert hielt, sah die Stiele der Blumen und deren Blüten. Aber das waren keine Blüten, sondern Köpfe.
Menschenköpfe! Sie saßen auf den Stengeln wie normalerweise die gelben Kelche der Rosen.
Gesichter - Köpfe. Kleiner als die eines Menschen, aber mit all dem versehen, was auch menschliche Gesichter besitzen. Nase, Mund, Augen, Ohren, Haare. Da gab es nichts, was nicht auch ein Mensch gehabt hätte.
Nur war alles verkleinert.
Victor kniete auf dem Boden. Der andere, der Unbekannte hielt seinen Strauß so, dass die Gesichter den Nachtwächter anschauen mussten. Deutlich erkannte er auf den Gesichtern das böse Grinsen. Wirklich kein Lächeln, nur ein gemeines, teuflisches, mordlüsternes Grinsen. Ja, mordlüstern…
Und die Mäuler bewegten sich. Wie kleine Rachen wirkten sie, als sie auf-und wieder zugeklappt wurden. Spitze Zähne trafen aufeinander, und deutlich vernahm Victor die dabei entstehenden Geräusche, die ihm einen Schauer über den Rücken jagten.
Er wollte etwas sagen, sich bei dem Mann, der den Strauß hielt, erkundigen, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Er brachte einfach keinen Ton hervor, denn er hatte längst bemerkt, dass sich hier niemand einen Spaß erlaubte.
Das war Ernst, blutiger Ernst, und wahrscheinlich ging es sogar um sein Leben.
Der andere ließ ihm Zeit, sich die Gesichter anzuschauen. Er rührte sich nicht vom Fleck und schien sich an der Angst des älteren Nachtwächters zu weiden. Sehr langsam bewegte er seinen rechten Arm, so dass der Strauß mit den unheimlichen Rosen auf Victor zugeführt wurde und sich immer mehr seinem Gesicht näherte.
Die Köpfe bewegten sich. In den kleinen Augen erkannte er so etwas wie den Triumph eines Raubtieres, wenn es seine Beute gestellt hatte. Wie eine Beute kam sich Victor in diesen schrecklichen Momenten vor. Eine Beute für die Hölle!
Jetzt hatte er die Erklärung. Das hier wurde von der Hölle gelenkt, genau wie die Hexen die Hölle anbeteten. Der Fluch der Vergangenheit war wieder lebendig geworden. Er spiegelte sich in den kleinen Gesichtern wider mit der grauen eingefallenen Haut, die an einigen Stellen teigig schimmerte, an anderen wiederum eingefallen war und auch dünn wie Pergamentpapier wirkte.
Ein Ruck.
Victor schrie noch, bevor diese Gefühlsaufwallung brutal erstickt wurde, als die Köpfe sein Gesicht trafen. Sein Kopf verschwand in den so schrecklich verwandelten Rosenblüten, und aus dem Strauß drang ein dumpfes Röcheln hervor, das immer mehr erstickte und schließlich überhaupt nicht mehr zu hören war.
Victor verlor das Gleichgewicht. Er fiel auf die Seite und landete am Boden. Mit den Händen schlug er um sich, hob sie an, und seine zehn Finger verkrallten sich in dem Rosenstrauch.
Der Schmerz traf ihn hart. Die Blüten hatten sich zwar verändert, nicht die Stiele. Sie zeigten nach wie vor ihre Dornen, die hart in das Fleisch an den Händen des Mannes stießen und dabei wie kleine Messer wirkten.
Victor hatte schreckliche Angst. Der Luftmangel machte ihm zu schaffen, denn die Köpfe befanden sich so dicht nebeneinander, dass er kaum Atem holen konnte.
Dann spürte er die Stiche. Kleine Zähne hackten in seine Haut, rissen Wunden, er schloss die Augen, um sie zu schützen, und er hörte Stimmen, die irgendwie singend klangen.
»Wir Hexen werden uns rächen. Diese Erde gehört uns. Ihr habt uns getötet, der Teufel schickt uns zurück. Lob sei Wikka, unserer Königin!«
Victor verstand die Worte zwar, aber er begriff ihren eigentlichen Sinn nicht. Das wollte er auch nicht, er hatte nur den Wunsch, sich aus dieser tödlichen Umklammerung zu befreien. Dabei rollte er sich über den kalten Boden, wollte dem Strauß entkommen, doch der Mann, der ihn hielt, machte jede seiner Bewegungen mit.
Victor geriet in Panik. Er wusste nicht mehr, was er tat. Schmerz und Luftmangel raubten ihm den Verstand. Seine blutigen Hände drangen in den Rosenstrauch hinein, er fühlte plötzlich die kleinen Gesichter zwischen seinen Fingern, und in seiner wilden Panik drückte er zu. Unter seinen Fingern spürte er den Erfolg, und das gab ihm irgendwie die Kraft, es noch einmal zu versuchen.
Mit beiden Händen schlug er den tödlichen Rosenstrauch zur Seite. Was er zuvor nicht für möglich gehalten hatte, traf ein. Er konnte sich in der Tat befreien.
Plötzlich bekam er wieder Luft. Weit riss er den Mund auf, atmete keuchend und öffnete auch die Augen, doch über seinen Pupillen lag ein roter Schleier, denn von der
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