Blutige Spuren
mithilfe des Winkels zwischen 12 Uhr und dem Stundenzeiger bestimmen konnte, wo Süden war.
Der erste Anstieg in den Wald war steil und – wie Grimm vorhergesagt hatte – matschig. Die Stämme der Bäume waren dunkel vom Wasser, und es tropfte von den Ästen, als habe es eben noch geregnet.
Sternenberg brauchte jeweils eine Weile, bis er sich an zwei Weggabelungen entschieden hatte. Die Wegweiser waren eher verwirrend, und die meisten Ortsangaben sagten ihm nichts. Also ging er nach Himmelsrichtung. Dann hielt er am Boden nach Ästen Ausschau, die die richtige Länge für Wanderstöcke hatten. Die meisten waren zu kurz oder zu dick und schwer. Schließlich fand er einen sehr langen, der sich in zwei etwa gleich große Stücke zertreten ließ. Allerdings war das nasse Holz schmierig an den Händen.
Mit den Stöcken verdoppelte er sein Tempo. Noch vor einigen Wochen konnte ich im Plötzensee schwimmen, dachte er. Das fehlt mir. Jetzt kommt der Schnee, dann Weihnachten und wieder Schnee, dann braucht es diese langen Berliner Frühjahrsmonate, bis es endlich wieder warm genug ist für ein paar Runden.
Der Weg führte gerade wie ein Lineal durch den Wald. Er nahm an, dass dies die Himmelsleiter war. Es ging bergauf, so weit er sehen konnte. Die Pfützen auf der autobreiten Piste ließen sich einigermaßen gut umgehen. Sternenberg hatte knöchelhohe feste Schuhe an, denen ein Spritzer Matsch nichts ausmachte.
Ich kann mir ein paar Gedanken machen. Ich muss mich nur konzentrieren. Schweife zu oft ab. Vor tausend Jahren spielen drei Männer Karten, reden und trinken Bier. Irgendwann fangen sie an, sich zu streiten. Sie schlagen aufeinander ein. Irgendwann zieht der erste sein Messer, dann der zweite. Aus irgendeinem Grund stechen alle drei aufeinander ein. Bis sie so verletzt sind, dass sie an ihren Wunden verbluten. Niemand hilft ihnen. Vielleicht hat keiner sie gesehen.
Vor ein paar Tagen spielen drei Männer Karten, reden und trinken Bier. Irgendwann fangen sie an, sich zu streiten. Sie schlagen aufeinander ein. Irgendwann zieht der erste von ihnen ein Messer, dann der zweite. Aus irgendeinem Grund stechen die drei aufeinander ein. Bis sie so verletzt sind, dass sie an ihren Wunden verbluten. Niemand hilft ihnen. Vielleicht hat keiner sie gesehen, schließlich gab der Grunewald ihnen Deckung. Das Ganze ereignet sich tausend Jahre nach dem Tod der drei Hirten. In Berlin.
Die einen hat es eventuell nie wirklich gegeben. Die drei anderen schon. Dafür wissen wir immer noch nicht, was Gusewski, Huth und Seesand gemacht haben. Vor allem, was sie miteinander zu tun hatten. Ein Zuhälter, ein Sozialhilfeempfänger, der Bilder nachmalt, und ein verhinderter Theaterautor.
Er hörte auf den Rhythmus, in dem die beiden Wanderstöcke neben ihm im Sand knirschten und ab und zu in eine Pfütze stachen. Je mehr er auf den Rhythmus achtete, desto angespornter fühlte er sich, das Tempo zu erhöhen.
Es ging eine Weile so, weiter und weiter. Er kannte das vom Schwimmen. Irgendwann machte man sich keine Gedanken mehr über Geschwindigkeit und Rhythmus, dann wusste der Körper, wie es richtig war.
Immer wieder sah er links und rechts in den Wald, der an einigen Stellen dicht war, an anderen einen Blick weit in sich hinein gestattete – mit hohen, blanken Nadelbaumstämmen und Schlangengras, Baumstümpfen und kleinblättrigen Heidelbeerbüschen. An einigen Abschnitten des Weges gluckste ein Rinnsal in einem Graben, manchmal sogar beidseitig des Weges.
Als er seinen Blick über die Anhöhe vor sich schweifen ließ, fiel ihm auf, dass er sich doch wieder von seinen Gedanken hatte abbringen lassen. Wodurch? Durch den Wald? Es müsste viel leichter fallen, sich beim einsamen Gehen zu konzentrieren. Beim Schwimmen klappte es ja auch.
Es ist die Aufmerksamkeit, die ich allem um mich herum widme, dachte er. Ich achte auf jedes Geräusch. Bin ich ängstlich? Nein, eigentlich nicht.
Er fühlte sich wieder laufen, es war ein schneller, sicherer Schritt, ohne Zögern.
Die Himmelsleiter machte einen leichten Knick, und an dieser Stelle wies ein Schild den » Dreihirtenstein « aus – noch fünf Kilometer.
Sternenberg rechnete die wahrscheinliche Ankunftszeit aus und addierte den Rückweg. Demnach würde er erst gegen 19 Uhr in Steinachtal zurück sein – in der Dunkelheit. Noch später, wenn er sich am » Dreihirtenstein « aufhielte. Ging er hingegen noch schneller, könnten ihn die Kräfte verlassen, er würde einen Krampf bekommen,
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