Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
Nachmittag fiel mein Blick auf meinen Flurspiegel. Mein Haar war nur noch schulterlang, und zum ersten Mal seit langer Zeit sah ich halbwegs präsentabel aus. Hinter mir stand Andrew und sah mich mit einem beifälligen Lächeln an, doch bis ich den Kopf gedreht hatte, war er schon nicht mehr da. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dort stand und mir den Mund zuhielt, um nicht laut zu schreien.
Bis zum Abend hatte ich sämtliche Übersprungshandlungen, die mir eingefallen waren, absolviert. Ich hatte den Boden meines Bads geschrubbt, die Bücherregale abgestaubt und jede noch so winzige Bakterie in meiner Wohnung ausgemerzt. Als mein Handy schrillte, saß ich auf dem Fußboden in meinem Schlafzimmer und hatte einfach nicht die Kraft, um aufzustehen. Die Anruferin klang total euphorisch, und ich brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, dass es Lola war, die vor lauter Aufregung noch schneller sprach als sonst.
»Ich habe die Rolle bekommen. Ich spiele in drei Folgen von East Enders mit. Und ich habe sogar einen eigenen Handlungsstrang!«
Es gelang mir, ihr zu gratulieren, aber offenbar klang ich nicht wirklich überzeugend, denn sofort erkundigte sich meine Freundin: »Was ist los, Schätzchen?«
»Kann ich vielleicht vorbeikommen?«
»Natürlich. Ich habe heute Abend nichts mehr vor.«
Ich kann Lola einfach nichts vormachen, denn ihr fällt selbst die winzigste Veränderung in meiner Stimme auf. Normalerweise schlang sie mir zur Begrüßung immer gutgelaunt die Arme um den Hals, aber als ich an dem Abend in der Borough Road erschien, stand sie einfach reglos in der Tür. Ich folgte ihr in ihre winzige Einzimmerwohnung und warf mich ermattet auf die Couch.
Als ich ihr erzählte, was geschehen war, riss sie ungläubig die Augen auf, und als ich ihr Einzelheiten nannte, hielt sie meine Hand und suchte mein Gesicht nach Zeichen dafür ab, dass vielleicht auch ich gefährdet war.
»Ich kann es einfach nicht glauben«, wisperte sie irgendwann. »Wie krank muss jemand sein, um so etwas zu tun?«
Sie stand auf, um mir eine Tasse Tee zu machen, und ich sah mich in ihrer Bude um. Ich konnte verstehen, dass sie auf Wohnungssuche war. Das Zimmer war tatsächlich winzig, und vor allem lag es über einer Spirituosenhandlung, die die ganze Nacht geöffnet war, und sie schlief allabendlich über den lautstarken Beschwerden irgendwelcher Säufer über die zu hohen Sixpack-Preise ein. Doch zumindest war die Miete niedrig – denn ihr Schauspielfreund, der eigentlich dort wohnte, aber wegen irgendeiner Rolle nach New York gegangen war, hatte ihr einen guten Preis gemacht. Vor seinem Auszug hatte er die schimmeligen Wände mit Plakaten irgendwelcher Shows im West End überklebt, und vom Kaminsims strahlte mich die Büste von Matilda mit einem geübten Showbiz-Lächeln an, als wäre das Leben ein einziges, langes Wunder, das es zu bestaunen galt. Lola fuchtelte mit einer Hand vor meinem Gesicht herum, als wolle sie sich vergewissern, dass ich nicht mit einem Mal erblindet war.
»Du bist gar nicht wirklich hier, nicht wahr?«
»Wie meinst du das?«
»Du schwebst in einer Seifenblase. Ich wette, du hast bisher nicht einmal geweint.«
Ich schüttelte den Kopf. Vielleicht lag es daran, dass ich mich nicht gehenlassen konnte, dass sie plötzlich Tränen in den Augen hatte, doch nachdem sie einmal angefangen hatte, schluchzte sie sich regelrecht die Seele aus dem Leib. Lola konnte heulen, als ginge es dabei um den Erhalt des Vaterlands, und mir blieb nichts anderes übrig, als sie in den Arm zu nehmen und darauf zu warten, dass der Tränenstrom ein Ende nahm. Tatsächlich riss sie sich nach einem Augenblick zusammen, aber ihr strahlendes Lächeln war erloschen, und das Grün in ihren Augen war zwei Töne dunkler als zuvor.
Sie schluckte die letzten Tränen herunter und bedachte mich mit einem vorwurfsvollen Blick. »Du solltest in Tränen aufgelöst hier sitzen, und nicht ich.«
»Ich darf jetzt nicht zusammenklappen. Ich muss rausfinden, wer ihn ermordet hat.«
»Ich werde dir dabei helfen, Al. Sag mir einfach, was ich machen soll.«
Sie ließ nichts unversucht, um mich dazu zu bringen, noch zu bleiben. Aber der Gedanke, dass sie weiter über Andrew sprechen könnte oder dass ich neben meinem eigenen Elend auch noch ihrer Trauer ausgeliefert wäre, schreckte mich.
Es war bereits dunkel, als ich wieder ging, aber ich lief achtlos an den Taxis, die am Rand der Straße warteten, vorbei. Denn sie erinnerten mich daran, dass
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