Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
auch meine letzte Tour mit Andrew eine Taxifahrt gewesen war.
Vor den Pubs unter der Tower Bridge tranken die Gäste ihre letzten Gläser aus. Ich blieb kurz am Geländer stehen und beobachtete ein Tanzschiff voller Pensionäre, das in Richtung Greenwich fuhr, während sich die BeeGees die Seelen aus den Leibern schrien. Allerdings hinkte das hektische Falsett von Night Fever ein Stück hinter dem Schiff her, bevor es an meine Ohren drang.
In Höhe des Museums für Design fand ich mit einem Mal zu meiner alten Entschlossenheit zurück. Vielleicht lag es an der frischen Luft, jedenfalls wurde mir klar, dass die Trauer warten musste, bis der Mörder meines Freundes hinter Gittern saß. Ich würde mir gleich morgen früh noch mal die Akten ansehen, um mich zu vergewissern, dass nicht irgendwas dort stand, was mir bisher nicht aufgefallen war.
Eine Gruppe Leute standen bei der China Wharf herum, doch ihr Lärm verebbte, während ich den Uferweg hinunterging, und dann war ich plötzlich allein. Das Einzige, woran ich dachte, war, ins Bett zu gehen und mir die Decke möglichst weit über den Kopf zu ziehen. Vielleicht war ich einfach noch zu betäubt, um die Zeichen zu erkennen, als ich die gewohnte Abkürzung über den Parkplatz nahm. Denn ich hörte nicht das leiseste Geräusch, doch mit einem Mal versagten meine Augen ihren Dienst, und meine Hände tasteten ins Leere, als um mich herum urplötzlich nur noch Schwärze war.
35
Jemand hatte mir eine Tüte über das Gesicht gezogen. Jedes Mal, wenn ich versuchte Luft zu holen, musste ich würgen, weil ich Plastik in den Mund bekam. Während einiger Sekunden war ich vor Entsetzen wie gelähmt, doch ich wusste, wenn ich mich nicht wehrte, würde ich Don Burns als nächste Leiche präsentiert. Meine Fersen schleiften über den Asphalt, als mich der Kerl nach hinten zerrte. Ich schlug wie von Sinnen um mich und rammte ihm krachend meine Ellenbogen in die Brust. Das schien ihn zu überraschen, denn erschrocken zog er eine Hand zurück, und das Plastik flatterte um meinen Hals. Ich konnte immer noch nichts sehen, aber wenigstens bekam ich wieder halbwegs Luft. Ich trat mit aller Macht nach hinten aus und erwischte offenbar sein Schienbein, denn er schrie vor Schmerzen auf. Doch bevor ich die Gelegenheit bekam zu schreien, drückte er mir abermals das Plastik auf den Mund.
Ein paar Meter weiter wurde knirschend eine Tür geöffnet, ich wurde unsanft nach vorn gestoßen, und der Angreifer rannte an mir vorbei aufs Themseufer zu. Ich riss mir die Tüte vom Gesicht und brauchte einen Augenblick, bis ich im orangefarbenen Licht der Straßenlampen wieder etwas sah.
Vor mir stand ein alter Mann und unterzog mich durch die dicken Gläser seiner Brille einer neugierigen Musterung. Den milchigen Linsen seiner Augen nach litt er an irgendeinem Star. Ich atmete keuchend ein und aus, und während einiger Sekunden war ich völlig ruhig. Denn wenn man um sein Leben kämpfte, blieb einfach kein Raum für Selbstmitleid.
»Alles in Ordnung, junge Frau? Ich wette, dass Sie über diese verdammte Treppenstufe gestolpert sind. Ich habe immer schon gesagt, dass hier eine Lampe fehlt.«
»Haben Sie eben jemanden weglaufen sehen?«
»Ich bin nur rausgekommen, weil ich eine rauchen wollte. Nein, ich habe niemanden gesehen«, erklärte er verwirrt.
Bevor ich ihm sagen konnte, dass ich vielleicht einzig wegen seiner Nikotinsucht noch am Leben war, trottete er schon wieder ins Haus.
Ich richtete mich mühsam auf. Es war ein Glück, dass ich nicht auf dem Bürgersteig, sondern auf dem Grasstreifen gelandet war. So gäbe es wahrscheinlich nicht mal einen blauen Fleck, der bewies, dass ich überfallen worden war. Die Tüte, die der Angreifer mir über den Kopf gezogen hatte, war aus dickem schwarzem Plastik. Doch obwohl sie völlig unschuldig aussah, hätte sie mich innerhalb von kurzer Zeit erstickt. Mit genau so einer Tüte hatte er auch das Gesicht von Jamie Wilcox zugedeckt. Aber warum hatte er mich überfallen? Bisher hatte er noch nie jemanden, der nicht bei der Angel Bank gewesen wäre, im Visier gehabt. Dieser Überfall ergab nicht den geringsten Sinn, doch bevor ich aufstehen konnte, fing ich an zu zittern, so dass ich erst mal sitzen blieb.
Mit unsicheren Händen wählte ich Burns’ Nummer. Als er an sein Handy ging, hörte ich im Hintergrund Musik und laute Stimmen. Offenbar war er gerade in irgendeinem gutbesuchten Pub.
»Bleiben Sie, wo Sie sind, Alice. Ich bin schon unterwegs.« Er
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