Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
neuerliche Störung in der Luft zerrissen, und so nahm ich in der Hoffnung, dass die Zweige einer Linde mich verdecken würden, falls bei Poppy jemand aus dem Fenster sähe, auf einer niedrigen Mauer auf der anderen Straßenseite Platz.
Die Parade der Männer, die bei Poppy ein und aus ging, hätte selbst im eingefleischtesten Romantiker irgendwann den Zyniker geweckt.
Gegen acht marschierte ein Geschäftsmann mit verhärmten Zügen die Treppe zu ihrer Eingangstür hinauf. Er sah aus, als hätte er den ganzen Tag in unserer Staatskasse mit riesigen Geldsummen jongliert. Als er eine halbe Stunde später wieder auftauchte, sah er deutlich beschwingter aus. Er hatte die Krawatte abgelegt und ein dümmliches Grinsen im Gesicht.
Poppys nächster Kunde war ein Musiker, den ich irgendwo schon mal gesehen hatte. Ehe er das Haus betrat, sah er sich verstohlen um, und als er wieder auf die Straße kam, blickte er ein letztes Mal sehnsüchtig zu Poppys Schlafzimmer hinauf, zündete sich eine Zigarette an und schlenderte davon.
Gegen halb zehn begann ich, meinen Ausflug zu bereuen, und wollte gerade gehen, als ein dunkelblauer BMW in einer engen Lücke unweit des Gebäudes hielt. Eilig tat ich so, als riefe ich die Nachrichten auf meinem Handy auf, doch als ich wieder aufblickte und sah, wer aus dem Wagen stieg, klappte mir die Kinnlade herunter. Obwohl die Angel Bank geschlossen worden war, trug Henrik Freiberg noch genau denselben schlechtsitzenden Anzug wie bei unserem Gespräch. Bevor ich reagieren konnte, war er schon im Haus verschwunden, und als ich den Blick auf Poppys Wohnung lenkte, konnte ich dort einen roten Vorhang ähnlich einer Siegesfahne hinter einem Fenster flattern sehen.
Eilig tippte ich Burns’ Nummer in mein Handy ein, brach aber wieder ab, als ich das Besetztzeichen vernahm. Trotzdem blieb ich noch ein Weilchen sitzen, und noch während ich mir überlegte, ob ich nicht langsam nach Hause fahren sollte, tauchte Freiberg wieder auf. Er hatte zur Abwechslung einen beschwingten Gang, als hätte ihm die gute Poppy eine Dosis neuen Muts verpasst. Ich ging über die Straße und blieb neben seinem Wagen stehen.
Als er mich entdeckte, drückte sein Gesicht erst Ärger, dann Verlegenheit und schließlich heiße Scham darüber aus, bei einem anrüchigen Tête-à-Tête erwischt worden zu sein. Er versuchte, möglichst eilig einzusteigen, doch kaum hörte ich das Klicken der Zentralverriegelung, riss ich die Beifahrertür auf und schwang mich neben ihn. Vor lauter Schreck brachte er keinen Ton heraus und starrte mich mit großen Augen an, als rechne er mit einem Überfall.
»Bitte fahren Sie irgendwohin, wo wir in Ruhe miteinander reden können, Mr Freiberg«, bat ich ihn.
Er befolgte meine Anweisungen umgehend, und ich verstand, wie er zu seinem Job als Vizepräsident der Bank gekommen war. Er war ein typischer Beta-Mann, der sich stärkeren Persönlichkeiten bereitwillig unterwarf. Wahrscheinlich trampelte Poppy, wenn er sie besuchte, in Highheels auf ihm herum.
Der Wagen duftete nach teurer Seife. Offenkundig hatte Freiberg das De-luxe-Paket gebucht und anschließend geduscht, damit er blitzsauber war, wenn er nach Hause kam.
Er bog von der Albany Street in eine Sackgasse und starrte, auch nachdem er angehalten hatte, weiter reglos geradeaus.
»Warum verfolgen Sie mich?«, murmelte er.
»Seit wann sind Sie schon Poppys Kunde?«
Sein Blick prallte von meinem Gesicht ab wie ein Flummi, der auf eine harte Oberfläche traf. »Nicht, dass Sie das etwas anginge, ich habe eben eine gute Kundin unserer Bank besucht«, stammelte er und wischte sich die Schweißperlen von seiner Oberlippe ab.
»Hören Sie, ich bin bestimmt nicht hier, um Sie in Verlegenheit zu bringen. Aber vielleicht sind Sie in Gefahr. Ein paar der Opfer haben Poppy ebenfalls besucht. Doch das wissen Sie bereits, nicht wahr?«
Jetzt war es vollends um ihn geschehen. Er öffnete den Mund und klappte ihn mechanisch wieder zu, während ihm das graue Haar wirr in die Augen fiel. Ich hatte Angst, dass er sich vielleicht übergeben müsste, deshalb beugte ich mich vor und suchte Blickkontakt zu ihm.
»Ich versuche immer wieder, mich von Poppy fernzuhalten, aber bisher habe ich es einfach nicht geschafft. Bitte erzählen Sie meiner Frau nicht, wo ich war. Dafür tue ich auch alles, was Sie wollen«, flehte er mich mit schriller Stimme an. Der Gedanke, dass ihm seine Gattin auf die Schliche käme, schreckte ihn anscheinend deutlich mehr als die
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