Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
Glück war kaum Verkehr. Einzig ein paar Taxifahrer kutschierten die letzten Partygäste nach Hause. Trotzdem musste ich mich ganz aufs Fahren konzentrieren, denn meine Scheibenwischer machten Überstunden, doch selbst auf der höchsten Stufe kamen sie fast nicht gegen die Sintflut an. Dessen ungeachtet nahm ich meinen Fuß nicht einen Augenblick vom Gaspedal, und während ich mich Richtung Westen kämpfte, wurde ich wahrscheinlich mindestens ein halbes Dutzend Mal geblitzt. Die Lichter der Schiffe, die auf der Themse vor Anker lagen, flackerten nervös über die Wasseroberfläche, und ich atmete so gleichmäßig wie möglich aus und ein. Hoffentlich war die Polizei bereits vor Ort und trug durch die Rettung der Familie Kingsmith zu Burns’ Rehabilitierung bei.
Doch ich hatte mich zu früh gefreut. Denn als ich Notting Hill erreichte, sah ich nirgendwo ein Polizeifahrzeug, und auch die beiden Leibwächter in ihren schwarzen Anzügen standen nicht mehr vor der Tür. Immer noch strömte der Regen über meine Windschutzscheibe, als schütte jemand eimerweise Wasser über meiner Kühlerhaube aus. Weshalb ich das Gebäude nur verschwommen sah.
Sophie, ihre Mutter und das Baby hatten sich wahrscheinlich irgendwo im Haus vor dem Angreifer versteckt, doch plötzlich fiel mir ein, dass der Mörder immer möglichst schnell zuschlug. Entmutigt musste ich mir eingestehen, dass ich zu spät gekommen war. Inzwischen wären weiße Federn auf dem Fußboden verstreut, wenn ich das Haus beträte, würde mir der nächste Engel unschuldig entgegensehen, und der Bastard wäre kilometerweit entfernt und gratulierte sich zu seinem Werk.
Am liebsten wäre ich schnurstracks zum Haus gelaufen, um dort durch den Briefschlitz in den Flur zu spähen, aber dann wäre Don Burns wahrscheinlich außer sich vor Zorn. Also wählte ich noch einmal seine Nummer, und als er auch dieses Mal nicht reagierte, hinterließ ich eine Nachricht auf der Mailbox und beschloss auf seinen Rückruf zu warten.
Es war, als hielte die gesamte Stadt den Atem an. Alles, was ich hörte, waren das Jaulen eines einzelnen Motorrads und den Regen, der noch immer unbarmherzig auf das Dach von meinem Wagen trommelte.
Ich dachte an Burns’ unsicheren Gang. Wahrscheinlich schlief er so fest, dass er das Klingeln seines Handys, selbst wenn es in Höhe seines Kopfs auf seinem Nachttisch lag, überhaupt nicht mitbekam. Ich war also auf mich allein gestellt.
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Ein ums andere Mal gingen mir grässliche Szenarien durch den Kopf. Sophie, die verwundet irgendwo im Haus lag und ihr Baby in den Armen hielt. Aber vielleicht hatte er sie ja auch alle abgeschlachtet. Um die grauenhaften Bilder loszuwerden, kniff ich möglichst fest die Augen zu.
Der Killer musste sofort nach getaner Arbeit durch die Hintertür verschwunden sein. Denn abgesehen von dem Licht, das durch die Fenster des Gebäudes fiel, gab es nirgends ein Lebenszeichen. Ich konnte mir schlecht vorstellen, dass jemand wütend genug war, um eine ganze Familie auszulöschen. Vor allem, wie in aller Welt hätte irgendjemand in das Haus gelangen sollen, wenn er nicht von einem Bodyguard hineingelassen worden war? Abermals griff ich nach meinem Handy und rief den Notruf an. Die Frau am Apparat klang ungläubig, als ich die Lage schilderte, als hätte ich mir die Geschichte einfach zum Vergnügen ausgedacht. Kurzerhand legte ich wieder auf, kletterte aus dem Wagen und wurde sofort bis auf die Haut durchnässt. Falls jemand aus dem Fenster blickte, sähe er eine ertrunkene Ratte, die in Richtung Haustür lief.
Die Tür stand offen, aber aus dem Haus drang nicht das leiseste Geräusch. Der Killer hatte seine Arbeit offenbar getan und war sofort danach verschwunden, wie bei all den anderen Überfällen auch. Ich musste schlucken, rief mir aber in Erinnerung, dass es zu spät für Panik war – weil es jetzt nur noch darum ging zu sehen, ob vielleicht noch irgendjemand am Leben war. Mit einem äußerst mulmigen Gefühl trat ich über die Schwelle, und das Erste, was ich sah, war einer der Bodyguards, der zusammengesunken neben einer Heizung saß. Er sah aus, als wollte er sich wärmen, und tatsächlich war die Haut an seinem Hals noch warm, als meine Finger seine Halsschlagader suchten. Doch von seinem Puls spürte ich nichts. Blut tropfte von seinem Hemd, und ich wusste, dass es sinnlos war, mir seine Verletzungen genauer anzuschauen – weil ich mich ganz darauf konzentrieren musste, nach möglichen Überlebenden zu sehen.
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