Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
Mein Blick fiel auf das leere Waffenhalfter, das der Bodyguard unter der Achsel trug, und allmählich konnte ich mir vorstellen, was geschehen war. Niemand konnte vier bewaffnete Wachmänner überwältigen. Der Killer musste schon die ganze Zeit im Haus gewesen sein und auf die richtige Gelegenheit gelauert haben.
Mir war klar, ich sollte besser draußen warten, um nicht irgendwelche Spuren zu verwischen, aber als ich mich zum Gehen wenden wollte, hörte ich die Stimme eines Mannes und blieb stehen. Das leise, gutturale Röcheln, das vom anderen Flurende zu mir herüberdrang, kam von einem zweiten Leibwächter, der auf dem Boden lag. Er war gefesselt und geknebelt und wies eine klaffende Stirnwunde auf. Einen hässlich roten, zentimeterbreiten Schnitt, aber zumindest war er noch am Leben und kämpfte blinzelnd darum, bei Bewusstsein zu bleiben.
»Jetzt ist alles gut«, versuchte ich ihn leise zu beruhigen. »Jetzt sind Sie in Sicherheit.«
Meine Stimme ließ ihn panisch werden, und er zog die Schultern an, als hätte ich ihn attackiert. Seine Augen rollten wild in seinem Kopf, während ich versuchte, ihm die Fessel abzunehmen, und noch während ich verzweifelt mit den Knoten in der Wäscheleine rang, vernahm ich einen lauten Donnerhall.
Mir wurde erst klar, dass das ein Schuss gewesen war, als die Kugel direkt vor mir in die Wand einschlug. Sofort drückte der Angreifer noch einmal ab, der Leibwächter sackte in sich zusammen, und ich sah, dass Blut aus seinem Oberkörper auf den Boden troff.
Mit wild klopfendem Herzen rannte ich zur Treppe und das Handy, das mir auf dem Weg nach oben aus der Tasche fiel, polterte die Holzstufen hinab.
Kaum hatte ich den Treppenabsatz erreicht, gingen überall die Lichter aus. Der Killer hatte offenbar den Kasten mit den Sicherungen ausfindig gemacht und den Hauptschalter umgelegt, weshalb ich urplötzlich im Dunkeln stand. In dem verzweifelten Verlangen, irgendeinen festen Gegenstand zu spüren, ruderte ich wild mit meinen Armen, aber irgendwann gewöhnten meine Augen sich ein wenig an die Finsternis, und plötzlich nahm ich einen schmalen Lichtstreif auf dem Boden wahr. Ich hörte Schritte. Panisch stürzte ich durch die Tür und warf sie hinter mir zu, doch als ich mit einer Hand darüberfuhr, spürte ich, dass sie kein Schloss besaß und aus dünnem Holz gezimmert war. Sie von außen aufzubrechen wäre sicher kein Problem. Ich tastete nach einem Stuhl, doch während ich ihn unter den Türgriff klemmte, wusste ich, dass er mich nicht auf Dauer retten würde, sondern ich durch die behelfsmäßige Barrikade bestenfalls ein wenig Zeit für die Planung meiner Flucht gewinnen konnte. Die Schritte hielten inne. Vielleicht war der Kerl im Dunkeln über irgendwas gestolpert oder stand direkt vor meiner Tür und wartete auf einen günstigen Moment.
Das Einzige, was ich noch hörte, waren mein eigenes lautes Keuchen und die Regentropfen, die gegen das Fenster hämmerten. Aus irgendeinem Grund war ich der festen Überzeugung, dass es keine Überlebenden mehr gab. Vielleicht hatte er den Banker ja gezwungen, dabei zuzusehen, wie er erst Louise, dann seine Frau und zuletzt sein Kind erschoss. Ich presste meinen Rücken an die Wand. Erst mal ging es darum, nicht direkt hinter der Tür zu stehen. Denn vor einer Kugel bot das dünne Holz nicht den geringsten Schutz.
Während eines flüchtigen Moments ergoss sich das Licht des Mondes in den dunklen Raum. Ich erkannte ein schmales Bett, eine Vitrine und einen Schrank. Anscheinend hatte ich ein Gästezimmer als Versteck gewählt. Ich zerrte an dem Schiebefenster, doch es war verschlossen, und gegen den Rahmen durfte ich auf keinen Fall treten. Weil mich der Lärm verraten hätte und der Kerl mich garantiert hinter dem Haus erwarten würde, falls ich aus dem Fenster sprang. Und dann wäre ich an einem Ort gefangen, an dem es kein Versteck mehr gab.
Meine Klaustrophobie gewann die Oberhand, und mir wurde schwindlig, weil ich nur noch unzureichend Luft bekam.
Dann hörte ich es wieder. Seine Schritte auf dem Treppenabsatz, langsam, aber zielstrebig, als hätte der Kerl alle Zeit der Welt. Dann schob sich ein dünner Lichtstrahl unter meiner Tür hindurch – offenbar hatte der Bastard seine Taschenlampe auf den Spalt gelenkt. Ich hielt den Atem an, bis meine Lungen brannten, aber endlich ging er weiter, und die Dielenbretter knirschten unter seinen Schritten, als er sich im Nebenzimmer bückte, um unter den Betten und den Tischen
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