Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
einem jungen Mann auf der Seite der Engel stand? Vielleicht war es aus seiner Sicht ja völlig simpel – vielleicht sah er es einfach so, dass ein Habenichts die Menschen, die etwas besaßen, schlug. Vielleicht bestrafte er die Senkrechtstarter der Gesellschaft für ihr Leben im Überfluss.
Ich stopfte die Zeitung in die Tasche und stieg aus.
Viel später als geplant, kam ich schließlich im Theater an. Eine Gruppe junger Darsteller stand in der Eingangshalle, und ihre übertrieben lauten Stimmen erinnerten mich daran, dass ich selbst ein hoffnungsloser Fall als Mimin war. Schauspieler waren phänomenale Freunde, aber ich empfand es als erschöpfend, wenn man pausenlos von so viel Charisma umgeben war.
Ich fand Lola im Probenraum, wo sie einer jungen Rollstuhlfahrerin beim Umblättern der Seiten ihres Textes half. Mit dem aus dem Gesicht gekämmten, roten Haar und ihrem kilometerbreiten Lächeln sah sie wieder mal phantastisch aus.
Um die zwanzig Kinder tobten ausgelassen durch den Raum, und hin und wieder setzten sie zu einer Schauspielübung an. Wie die beiden kleinen Jungen, die den Rollstuhltanz vollführten und sich dabei so graziös bewegten, dass man das Gefühl hatte, die Rollstühle wären ein ganz natürlicher Bestandteil dieser Kids.
Inmitten dieses bunten Treibens fiel mir erst nach einer Weile auf, dass jemand in der Ecke stand und unverwandt in meine Richtung sah.
Ich musste zweimal hinsehen, um mich zu überzeugen, dass dort Andrew Piernan stand, doch als er auf mich zukam, hatte er denselben amüsierten Ausdruck wie am Abend vorher im Gesicht. Den Smoking allerdings hatte er gegen ein dunkelgrünes Hemd und Jeans getauscht.
»Verfolgen Sie mich etwa?«, fragte ich.
»Natürlich. Sie haben gesagt, Sie wären hier, also habe ich seit Tagesanbruch draußen vor der Tür campiert. Allerdings war ich schon öfter hier, ob Sie es glauben oder nicht.«
»Meine Freundin Lola hat mich praktisch hergezwungen.« Ich wies dorthin, wo sie stand. Inzwischen hatte eine Horde kleiner Jungen sie umringt, die versuchten, ihre Zungen so weit rauszustrecken, wie es ging.
»Ich bin ihr schon mal begegnet. Es ist sicher schwer, ihr eine Bitte abzuschlagen.« Piernan sah mich weiter an, und ich wünschte mir, ich trüge noch dieselben Schuhe wie am Vorabend. Denn er war so groß, dass ich den Kopf in den Nacken legen musste, um ihm während unserer Unterhaltung ins Gesicht zu sehen. »Hätten Sie Lust, mit mir mittagessen zu gehen? Aber vielleicht haben Sie ja keine Zeit. Dann könnten wir vielleicht zumindest einen Kaffee trinken.«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Mittagessen wäre schön.«
Ich bedachte Lola mit einem entschuldigenden Blick, weil meine Pläne sich geändert hatten, aber sie reckte aufmunternd beide Daumen in die Luft. Mein Versuch zu flirten schien ihr deutlich wichtiger als unsere Verabredung zu sein.
Piernan fand für uns zwei Plätze in einem Café mit Blick über den Fluss, auf dessen anderer Seite eine Reihe viktorianischer Lagerhallen stand.
»Was haben Sie für eine Verbindung zum Riverside?«, erkundigte ich mich.
»Ich sammle Spenden für den Verein, der Leute wie Ihre Freundin engagiert.« Er lachte, als er meine überraschte Miene sah. »Weshalb schockiert Sie das?«
»Sie haben gesagt, Sie nehmen die Leute aus.«
»Das tue ich ja auch.« Die Haut spannte sich über seinen Wangenknochen, als er fröhlich grinste. »Ich arbeite für die Ryland-Stiftung. Sie wurde nach Louisa Ryland, einer viktorianischen Wohltäterin, benannt, die den größten Teil ihres Vermögens weggegeben hat. Wir bringen Unternehmen dazu, Geld für wohltätige Zwecke auszugeben, aber normalerweise setzen wir dabei nur unsere Überredungskunst statt irgendwelcher Waffen ein.«
Als die Bedienung kam, um unsere Bestellung aufzunehmen, plauderte er kurz mit ihr, und ich bekam ein anderes Bild von ihm. Mit einem Mal war er nicht mehr der Klassenclown, sondern ein echter Gentleman. Am meisten faszinierte mich sein urplötzlich geschliffener Akzent. Er klang wie ein Nachrichtensprecher aus den vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, der in haargenau demselben Tonfall über Siege oder Niederlagen sprach. Als die Serviererin wieder verschwand, wandte er sich abermals an mich.
»In diesem Theater arbeiten sie mit Menschen wie meiner Schwester. Deshalb engagiere ich mich dort.«
»Ihre Schwester ist behindert?«
Piernan zögerte. »Eleanor hat das Asperger-Syndrom. Sie ist fast dreißig, aber erst
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