Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
sich darin unaufhaltsam auf. Es war schwer zu sagen, wie es Hancock ging, denn mit seiner einen durchgehenden Braue sah er immer wütend aus. Er versuchte gar nicht erst, eine Unterhaltung mit uns anzufangen, während ich aus meinen hochhackigen Schuhen in ein Paar weißer Plastikstiefel stieg.
Ich folgte Burns vorbei an einer Reihe aufgeklappter Industriemülltonnen, denen ein betäubender Gestank nach abgestandenem Bier, verrottenden Lebensmitteln und Urin entströmte, bis ich eine Sanitäterin hinter der Absperrung am Boden knien sah.
»Können Sie mir sagen, was passiert ist?«, fragte Burns im Flüsterton, wie um das Opfer nicht zu wecken.
Die junge Frau drehte sich zu uns um. Ihr kreideweißes Gesicht verriet, dass die Verwundungen des Mannes furchtbar waren. Schließlich sah sie jährlich Dutzende von Toten und Verletzten.
»Es muss schnell gegangen sein«, erklärte sie. »Das ganze Blut bedeutet, dass das Messer ihn mitten ins Herz getroffen hat.«
Sie flüchtete sich wieder in die Sicherheit des Krankenwagens, und zum ersten Mal konnte auch ich den Toten sehen. Er lag in einem Meer aus Blut und hatte eine schwarze Plastiktüte über dem Gesicht. Direkt neben seinem Kopf lag das Bild von einem Engel, dessen Strahlenkranz im Licht der Scheinwerfer genauso glänzte wie die Handvoll weißer Federn auf dem schimmernden Asphalt. Der Mann trug eine dunkle Hose und ein langärmliges Hemd. Übelkeit stieg in mir auf. Ich fragte mich, wo er wohl seinen letzten Tag verbracht hatte. Wahrscheinlich irgendwo an einem Schreibtisch. Den Start ins Wochenende hatte er sich sicher anders ausgemalt.
Abermals verschwand der Mann aus meinem Blickfeld, denn zwei Polizisten drängten sich an mir vorbei. Der Fotograf war bereits bei der Arbeit, nahm den Toten aus verschiedenen Winkeln auf, und erst nachdem er damit fertig war, hockte Burns sich vor das Opfer, um es sich genauer anzusehen.
Aus Richtung Straße drangen Stimmen an mein Ohr. Die ersten sensationslüsternen Journalisten waren aufgetaucht, und Taylor trottete zum Absperrband, um sie zu bedienen.
»Diese verdammten Geier hängen sich mit Vorliebe an irgendwelche Krankenwagen dran«, murmelte Burns. »Sieht aus, als wollte uns der Täter aufziehen.«
»Was meinen Sie mit aufziehen?«
»Diesmal hat er eine größere Visitenkarte ausgewählt, für den Fall, dass wir die Erste übersehen haben.«
Er zog ein Paar Gummihandschuhe an und hob die Karte auf. Sie war wirklich deutlich größer als die Karte, die der Täter Gresham mitgegeben hatte, und das liebliche Gesicht des Engels war entstellt. Dicke schwarze Striche teilten die perfekten Renaissancezüge in verschiedene Bereiche auf.
Wieder starrte ich das Opfer an. In Höhe seines Bauches klaffte eine Wunde – ein gezackter, fünfzehn Zentimeter langer Schnitt. Eilig presste ich den Handrücken vor meinen Mund.
»Alles in Ordnung, Alice?«
»Es ging mir schon besser.«
»Sie brauchen nicht zu bleiben. Ich kann Sie von jemandem nach Hause fahren lassen.«
Doch ich schüttelte den Kopf. Es ist immer besser, einen Tatort zu besuchen, statt dass man auf Fotos angewiesen ist. Manchmal war der Killer erst vor weniger als einer Stunde abgehauen, und die Einzelheiten waren noch so frisch, dass man dieselbe Luft wie er zu atmen schien. So konnte man Informationen in sich aufsaugen, die einem ein Foto niemals gab. Zum Beispiel hatte ich an diesem Tatort bereits aufgenommen, welche Sorgfalt dieses Mal auf das Arrangement verwendet worden war. Die Arme dieses Opfers lagen ordentlich neben dem Körper, als hätte es sich nicht im mindesten gewehrt.
Wenige Minuten später tauchte auch die Pathologin auf, eine dralle, fröhliche Person mittleren Alters, der ihr grauenhafter Job den Abend offenkundig nicht verdarb. Ich wartete mit Burns hinter der Absperrung, während sie neben dem Toten in die Hocke ging. Als wir wieder zu ihr traten, zog sie vorsichtig die schwarze Tüte über seinen Kopf, damit der Fotograf auch das Gesicht aufnehmen konnte. Dabei ging sie derart sanft zu Werk, als wolle sie dem Toten keinen zusätzlichen Schmerz zufügen, und ich zwang mich, weiter hinzusehen. Das Gesicht des Mannes war zerschnitten, und der Schnitt in seiner einen Wange war so tief, dass unter seinem Ohr ein Loch entstanden war, durch das man seine Zähne sah. Ein Hautfetzen war bis hinunter auf sein Schlüsselbein geklappt, und hinter seinen Stirnwunden tauchte das Weiß des Schädelknochens auf. Abermals wurde mir schlecht, und ich
Weitere Kostenlose Bücher