Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
mal deinen Anrufbeantworter abgehört. Ich habe viermal draufgesprochen.«
»Warum hast du mich nicht einfach auf dem Handy angerufen? Da erreichst du mich auf jeden Fall.«
Ich verfluchte meinen Bruder stumm. Wahrscheinlich hatte er die Nachrichten gelöscht und mir nichts davon erzählt. Dann sah ich mir die Garderobe meiner Mutter an. Sie trug ein frisches blaues Kleid, eine Perlenkette schmiegte sich um ihren Hals, und trotz der Autofahrt von Blackheath bis hierher bei beinahe vierzig Grad war ihre Frisur noch tadellos.
»Ich habe Will heute noch nicht gesehen. Hast du mit ihm telefoniert?«
»Du weißt doch, dass er nie auf meine Anrufe reagiert.«
Ich setzte mich ihr gegenüber an den Tisch, ahmte meine Freundin Lola nach und sah sie mit einem möglichst breiten Lächeln an. »Wir könnten ja auch irgendwo hingehen, wenn du willst.«
»Solltest du dich nicht erst mal ein bisschen frisch machen?«
»Es ist Samstag. Also habe ich das Recht, etwas zerzaust zu sein.«
Sie stieß einen Seufzer aus und blickte aus dem Fenster. »Er hat ja noch immer diesen grauenhaften Bus. Die reinste Todesfalle.«
»Ich glaube, er hat Angst davor, sich von ihm zu trennen.«
»Warum denn das?« Die Stimme meiner Mutter wurde schrill.
»Manchmal, wenn er gestresst ist, übernachtet er darin.«
»Das solltest du ihm nicht erlauben, Alice.« Sie bedachte mich mit einem vorwurfsvollen Blick.
»Also bitte, Mum, er ist inzwischen sechsunddreißig Jahre alt, und ich bin nicht seine Babysitterin.«
Erst als wir das Haus verließen und am Fluss entlangspazierten, legte sich ihr Zorn. Sie erzählte mir, dass sie mit einer Freundin aus der Bibliothek nach Kreta fliegen wollte, und auch wenn es für mich klang, als hätten sie nichts anderes vor, als zwischen den minoischen Ruinen hin und her zu stapfen, wäre das bestimmt genau das Richtige für sie. Ich konnte mir schwer vorstellen, wie sie entspannt am Strand auf einer Liege lag, um dem Rauschen des Meeres zuzuhören. Außerdem erzählte sie von ihrer ehrenamtlichen Beschäftigung. Einmal in der Woche übernahm sie den Telefondienst bei der Obdachlosenhilfe. Vielleicht milderte sie dadurch ihre Schuldgefühle, weil sie meinem Bruder nie auch nur ihr Gästezimmer angeboten hatte, als er über Jahre hinweg wohnungslos gewesen war.
»Ich habe am Montag das Grab deines Vaters besucht.«
»Ach ja?« Ich war zu überrascht für eine angemessenere Reaktion. Schließlich hatte sie den Mann vor Monaten zum letzten Mal auch nur erwähnt.
»Dieser Rosenbusch, den ich gepflanzt habe, entwickelt sich sehr gut. Wenn er so weiterwächst, muss er wahrscheinlich bald gestutzt werden.«
Ich nickte stumm. Mein Vater hatte immer alle Hände voll damit zu tun gehabt, sich in unserer Garage volllaufen zu lassen, und niemals auch nur das mindeste Interesse an der Gartenarbeit an den Tag gelegt. Es sah aus, als wollte meine Mutter mir etwas erklären, doch bevor sie die Gelegenheit dazu bekam, hatten wir das Museum für Design erreicht, kauften unsere Eintrittskarten und betraten eine Phantasiewelt mit dem Titel Kinderspiel. Hunderte von Barbie-Puppen waren in einem Fass voll durchsichtigem Harz gefangen, und ein paar von ihnen hatten ihre Arme ausgestreckt, als kraulten sie verzweifelt auf die Oberfläche zu.
»Lächerlich«, stieß meine Mutter schnaubend aus. »Was in aller Welt soll das bitte bedeuten?«
Ich dachte kurz nach. »Vielleicht, dass die Erinnerungen an die Kindheit starr sind? Dass man sie nicht mehr verändern kann?«
Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich, und sie marschierte weiter an den Ausstellungsstücken vorbei, ohne auch nur einen Blick auf die riesige Legostadt zu werfen, die kopfüber an der Decke hing. Anschließend spendierte ich ihr einen Eistee, aber sie behielt ihre gewohnte schlechte Laune weiter bei.
Zumindest auf dem Rückweg fanden wir etwas, was ihr gefiel. An sämtlichen Laternenpfählen hingen Körbe voll Hängegeranien und Lobelien.
»Sagenhaft«, murmelte sie und setzte angesichts der Blumenpracht das erste Lächeln dieses Tages auf.
Als wir zurück in meine Wohnung kamen, war von Will noch immer nichts zu sehen. Deshalb fuhr meine Mutter sich vor meinem Flurspiegel mit einer Hand über das Haar und wandte sich wieder zum Gehen. Sie küsste die Luft links und rechts von meinen Wangen, machte einen Schritt zurück und sah mich forschend an.
»Du siehst erledigt aus, Schätzchen. Hast du nicht genug geschlafen?«
Ich musste die Zähne aufeinanderbeißen,
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