Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
schaffte es mit Mühe durch die Absperrung, bevor ich mich in einen Abfalleimer übergab. Wenigstens war Burns so nett, kein Wort dazu zu sagen, als ich wieder die Gasse hinuntertorkelte.
Ich hätte auch ein Taxi suchen können, brachte aber nicht die Kraft auf abzulehnen, als mir Taylor anbot, mich zu fahren. Sicher gäben meine Beine jeden Moment nach. Anders als die anderen Studenten während meines Medizinjahrs an der Uni hatte mich der Anblick toter Menschen bereits damals aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie hatten es geliebt, die Leichen zu sezieren und zufrieden vor sich hin gesummt, während sie mit ihren Messern in die Haut und in die Knochen eingedrungen waren, als schnitten sie den Weihnachtsbraten an.
Trotz der alles andere als angenehmen Umstände schien Taylor fest entschlossen, den Galan herauszukehren, und öffnete schwungvoll die Beifahrertür seines Gefährts. Doch gerade als er selbst einsteigen wollte, klingelte sein Handy, und ich konnte durch das Fenster hören, wie er auf dem Gehweg stand und jemandem versicherte, er würde bald zu Hause sein.
»Das ist bereits der dritte Anruf heute Abend«, stöhnte er, als er sich schlechtgelaunt hinter das Lenkrad schwang. »Sie findet es entsetzlich, wenn sie mich nicht andauernd im Blick hat.«
Kaum waren wir losgefahren, wandte er sich mir schon wieder zu. »Wie steht’s mit Ihnen? Auf Sie wartet doch sicher auch jemand.«
»Nur mein Bruder.«
Diese Antwort war mir einfach so herausgerutscht, doch sofort war mir klar, dass ich besser einen Freund erfunden hätte. Denn der widerliche Taylor blickte mich mit einem vielsagenden Lächeln an und sprach den Rest des Wegs ausschließlich über sich. Aber sicher prahlte er genauso, wenn er ganz alleine war. Er beschrieb ausführlich, wie erfolgreich er als Sportstudent gewesen war, und mit welchen Preisen er beim Judo, Fußball, Tauchen überschüttet worden war. Anscheinend gab es keinen Preis, den er nicht irgendwann bekommen hatte. Auch bei den Frauen sah es rundherum phantastisch für ihn aus – er hatte stets die freie Wahl.
Nur von seiner Arbeit war er offenbar frustriert.
»Dies war das dritte Mal, dass ich bei den Beförderungen übergangen worden bin. Sie hatten mir den Job versprochen, aber dann haben sie Burns in Southwark vor die Tür gesetzt, und ich durfte schon wieder in die Röhre gucken. Was einfach unglaublich ist. Der Kerl ist völlig unfähig, und deshalb haben sie ihn auf uns abgewälzt.«
Ich ersparte mir die Mühe, ihn zu korrigieren, denn er hörte sowieso nicht zu. Sein Gesichtsausdruck verriet, wie unglücklich er war, und ich fand es seltsam, dass er von seinem eigenen Pech derart besessen war, während einen Kilometer hinter ihm ein Mann mit einem grausam zugerichteten Gesicht inmitten von Dreck und Unrat auf der Straße lag. Ich fragte mich, weshalb eine Beförderung ihm so wichtig war – ums Geld alleine konnte es dabei unmöglich gehen. Hinter seiner aufgeblasenen Fassade war sein Ego offensichtlich mikroskopisch klein. Es lag mir auf der Zunge, ihm zu offenbaren, dass es auch in Fällen wie seinem durchaus Hilfe gab. Zum Beispiel durch eine kognitive Verhaltenstherapie.
Es war bereits nach zwei, als er endlich vor meiner Haustür hielt. »Lust auf ein bisschen Gesellschaft?«, fragte er. »Sie könnten mir noch einen Kaffee kochen.« Seinen linken Arm hatte er bereits auf die Rücklehne von meinem Sitz gelegt.
»Danke, aber ich komme gut allein zurecht.« Am liebsten hätte ich ihm seine Freundin in Erinnerung gerufen, die zu Hause auf dem Sofa saß und auf ihn wartete. Er bedachte mich mit einem missbilligenden Blick, als hätte ich eine Riesenchance vertan.
Mein Bild im Badezimmerspiegel zeigte mir, wie anspruchslos Steve Taylor war. Meine Wangen zeigten dicke Spuren schwarzen Mascaras, und mein kunstvoller Chignon hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst. Ich zog mir die Nadeln aus dem Haar, schrubbte mein Gesicht mit Seife und ging auf direktem Weg ins Bett.
Aber die Ereignisse des Tages ließen mich nicht los. Erfolglos versuchte ich, nicht an den Toten in der Gutter Lane zu denken, der von seinem Peiniger den Ratten überlassen worden war. Auch die Engel-Postkarten verfolgten mich. Vielleicht war der Täter Atheist und sicher, dass es – außer vielleicht durch die menschliche Justiz – keine Strafe für die Morde gab. Das Letzte aber, was ich sah, war das Gesicht meines Begleiters aus dem Albion Club. Als ich einschlief, starrte Andrew Piernan mich aus seinen
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