Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
funktioniert er dabei so gut, dass nicht mal die, die ihm am nächsten stehen, ahnen, was er treibt. Er führt seine Überfälle abends durch und schleicht sich dann wieder nach Hause, ohne dass seine Familie etwas davon mitbekommt. Killer dieses Typs verstehen es oft hervorragend, die verschiedenen Bereiche ihres Lebens voneinander abzugrenzen. Sie können gute Eltern oder Partner sein und trotzdem losziehen, um so grässliche Verbrechen zu begehen. Meiner Meinung nach hat unser Mann studiert und ist überdurchschnittlich intelligent. Er geht gerne in Museen, ist gebildet und wuchs offenbar in einem religiös geprägten Umfeld auf. Wahrscheinlich war er irgendwann schon einmal wegen einer psychischen Erkrankung in Behandlung, und vielleicht hat er auch schon den einen oder anderen Selbstmordversuch hinter sich.«
Ein paar alte Hasen weigerten sich rundheraus, mir ins Gesicht zu sehen, die meisten Polizisten aber hörten mir anscheinend zu, und ein paar Neulinge schrieben bei meinem Vortrag sogar eifrig mit.
»Sie werden noch Kopien meines heutigen Berichts bekommen, aber eine Sache, die wir nicht vergessen dürfen, ist, dass die Vorgehensweise und die Signatur des Angreifers im dritten Fall nicht mehr dieselben waren. So was kommt nur selten vor. Die Brutalität von Serienkillern nimmt normalerweise immer weiter zu, aber ihre Vorgehensweise bleibt fast immer gleich. Nicole Morgan war die erste Frau, die unser Täter überfallen hat, er war weniger entschlossen als die ersten beiden Male, und auch die Visitenkarte sah verändert aus. All dies deutet darauf hin, dass der dritte Überfall vielleicht die Tat von einem Trittbrettfahrer war.« In der letzten Reihe schüttelten ein paar Leute die Köpfe und stöhnten vernehmlich auf. »Aber selbst wenn dem so ist, kennen beide Täter sich mit Schmerzen aus. Bei so brutalen Überfallen geht es für gewöhnlich darum, dass der Killer durch die Tat ein eigenes Trauma rächen will – sexuellen Missbrauch oder ein so ausgeprägtes psychisches Leid, dass ein Mensch sogar an Selbstmord denkt. Der Hauptunterschied ist der, dass der erste Täter seine Opfer schnell und schmerzlos töten will, während der Trittbrettfahrer Nicole Morgan größtmögliche Schmerzen hat leiden lassen.« Ich legte eine kurze Pause ein und sah mich um. »Irgendwelche Fragen, bevor ich Sie mit Ihrer Arbeit weitermachen lasse?«
Ein junger Beamter hob die Hand. Im kalten Licht der Neonröhren glitzerten dicke Schweißperlen auf seiner roten Haut.
»Das sind alles nur Vermutungen, nicht wahr? Aber warum gehen Sie davon aus, dass Ihre Theorien besser als die anderer Leute sind?«
Taylors Grinsen wurde tatsächlich noch breiter, und ich brauchte kein Genie zu sein, um zu erkennen, dass der Frager von ihm angestiftet worden war. Ich sah den jungen Mann mit einem nachsichtigen Lächeln an, bevor ich eine Antwort gab.
»Wie wir alle wissen, ist die Psychologie keine exakte Wissenschaft. Aber sie basiert auf den Beweisen, die Sie mir gegeben haben. Jeder einzelne Bericht, den Sie geschrieben haben, fließt in das Profil des Täters ein. Zum Beispiel haben Sie Dutzende von Pendlern am King’s Cross befragt. Fünf von ihnen haben Leo Greshams Mörder weggehen sehen, und ihre Beschreibungen helfen uns dabei, zu erkennen, was für eine Haltung unser Täter hat. Er hat sich entschlossen durch das Gedränge geschoben und sich kein einziges Mal nach seinem Opfer umgedreht. Er wollte sich also nicht an Greshams Elend weiden oder seine Schreie hören, aber Angst hatte er nicht. Er hatte sein Vorgehen genau geplant und sich dabei jeden Schritt des Angriffs bildlich vorgestellt. Doch diese Erkenntnis konnte ich nur dadurch erlangen, weil es eine Übereinstimmung zwischen den Aussagen von fünf verschiedenen Personen gab.« Wieder blickte ich den Frager lächelnd an. »Bisher habe ich der Polizei dreimal bei Ermittlungen zu Serienmorden assistiert. Irgendwas muss ich wohl richtig machen, denn sonst hätte sie mich nach dem ersten Mal bestimmt nie wieder engagiert.«
Er sah ernüchtert aus. Vielleicht hatte er einen verbalen Schlagabtausch ersehnt, um vor den Kollegen groß herauszukommen. So aber blieb alles still. Entweder waren die Leute noch betäubt von dem Gedanken, dass es neben unserem Killer plötzlich auch noch einen Trittbrettfahrer gab, oder sie waren es ganz einfach leid, einem Menschen zuzuhören, der eine völlig andere Sprache sprach. Auf jeden Fall sahen die meisten Mitglieder des Teams erleichtert
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