Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
zumindest meine Fotos und die alten Briefe vor dem Feuer zu bewahren.
Als es klingelte, lief ich erleichtert in den Flur. Sicher war es Lola, die am Wochenende oft zum Kaffeetrinken auftauchte. Mit ein bisschen Glück könnte sie ihren gewohnten Zauber wirken lassen, und mein Bruder käme zur Vernunft, bevor er auch noch seine Hose in den Plastikbeutel warf. Doch es war meine Mutter, die in einem faltenlosen grünen Kleid und mit gewohnt empörter Miene auf der Türschwelle stand.
»Du willst doch wohl nicht behaupten, dass du keine meiner Nachrichten bekommen hast. Ich habe mindestens ein halbes Dutzend Mal auf deinen Anrufbeantworter gesprochen.«
»Warum hast du mich nicht einfach auf dem Handy angerufen, Mum?«
Sie presste ihre Lippen aufeinander, weil der Punkt an mich gegangen war. Ich wollte ihr empfehlen, auf direktem Weg zu ihrem Nissan mit Zitronenduft zurückzukehren, doch es war bereits zu spät. Denn sie schob sich in dem Augenblick an mir vorbei, als Will seine Zimmertür öffnete.
Nun, zumindest könnte ich aus nächster Nähe mit verfolgen, wie’s zum Showdown zwischen ihnen kam. Vielleicht hörte Will meinen AB nur deshalb regelmäßig ab, um rechtzeitig auf Tauchstation gehen zu können, ehe unsere Mutter eintraf. Denn inzwischen ging er ihr seit über einem halben Jahr beharrlich aus dem Weg. Jetzt beäugte meine Mutter angewidert seinen nackten Oberkörper und die schmutzstarrenden Füße, und er presste sich den vollen Müllsack vor die Brust.
»Da bist du ja, William.« Die Kälte ihrer Stimme hätte die Polarkappen wahrscheinlich dauerhaft vor einem Abschmelzen bewahrt. »Was um Himmels willen treibst du da?«
»Nichts«, murmelte er. »Ich miste einfach meine Sachen aus.«
Ihre Miene wurde weich. »Das ist löblich. Schließlich ist es immer gut, sauber und ordentlich zu sein. Zeig mir, wie du bisher vorangekommen bist.«
Sie trat durch seine Zimmertür, brachte aber vor Entsetzen keinen Ton heraus, als sie die übervollen Aschenbecher, die verstreuten Kleider und die leeren Rotweinflaschen sah. Irgendwann aber erholte sie sich von dem Schock und wandte sich an mich.
»Wie konntest du es so weit kommen lassen, Alice?«
Ich erwog, ihr zu erzählen, was ich alles unternommen hatte, damit Will sein Lithium nahm und zu verschiedenen Ärzten ging, doch das hätte nichts genützt. Denn sie starrte mich so böse an, als hätte ich bei einer alles entscheidenden Prüfung elendig versagt.
»Lass sie in Ruhe.« Will ließ seinen Müllsack fallen. »Al war einfach toll. Sie hat mich monatelang hier wohnen lassen.«
Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Du verstehst nicht, Liebling. Jemand muss sich um dich kümmern, bis du wieder ganz du selbst bist«, erklärte sie ihm mit der Singsang-Stimme, mit der man mit einem quengeligen Kleinkind sprach. Dann trat sie auf ihn zu, und ich hielt gespannt den Atem an. Noch ein einziger Schritt in seine Richtung, und mein Bruder ginge wie von Sinnen auf sie los.
»Du bist diejenige, die nichts versteht.« Abwehrend streckte er einen Arm in ihre Richtung aus, plötzlich aber ließ er seine Schultern fallen und atmete tief durch. »Guck mal aus dem Fenster, Mum«, bat er in überraschend ruhigem Ton. »Was siehst du da?«
»Nicht viel«, fuhr sie ihn an. »Ein paar Häuser und natürlich deinen grauenhaften Bus.«
»Du guckst nicht richtig hin.« Er wies auf die einzige, fast unsichtbare Wolke, die am Himmel hing. »Was ist damit?«
»Um Gottes willen«, beschwerte meine Mutter sich. »Das ist einfach lächerlich.«
»Wenn du auch nur ein bisschen Grips hast, guckst du dir die Wolke an, bis du verstehst, was sie dir sagen will.«
Er wandte sich wieder zum Gehen, und ein paar Sekunden später fiel die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss. Ob meine Mutter seinen Rat befolgte, weiß ich nicht, denn ich ging in die Küche, weil sie ihren Schrecken sicher eher verdaute, wenn sie kurz alleine war. Als ich aus dem Fenster sah, hinkte Will mit leeren Händen, barfuß und halb nackt, mit narbenübersäten Beinen, doch mit einem Lächeln im Gesicht den Bürgersteig hinab.
Vielleicht vergoss meine Mutter sogar eine Träne, denn ich hörte, wie sie kurzfristig in meinem Bad verschwand. Schließlich aber tauchte sie, so makellos geschminkt wie eh und je, in meiner Küche auf. Ich schenkte uns beiden einen Kaffee ein und merkte, dass ihr für gewöhnlich missbilligender Blick verschwunden war. Stattdessen drückte ihr Gesicht heillose Verwirrung aus.
»Es ergibt
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