Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
ganz einfach keinen Sinn«, murmelte sie. »Ich habe doch immer nur versucht, euch beide zu beschützen.«
»Ich weiß, Mum«, stimmte ich ihr zähneknirschend zu und versuchte, das Geräusch der Schritte meines Vaters zu verdrängen, wenn er auf der Suche nach jemandem, den er verprügeln konnte, wütend durch das Haus gelaufen war. Doch wirklich verzeihen könnte ich ihr vielleicht nie.
Hinterher tat meine Mutter so, als wäre nichts geschehen. Sie erzählte mir von ihren Urlaubsplänen, trank noch eine zweite Tasse Kaffee, und zum ersten Mal seit Jahren konnte ich tatsächlich ihre Lippen spüren, als sie mir einen Abschiedskuss gab.
Aus dem Fenster blickte ich ihr hinterher, als sie in ihrem silbrig glänzenden Gefährt an Wills Bus vorüberfuhr, und fragte mich, warum ich nie mit ihr über mein eigenes Leben sprach. Vielleicht würde die Welt ja gar nicht untergehen, wenn ich mich ihr ab und zu ein wenig öffnete.
Ich starrte auf den Müll von Will, der noch in seinem Zimmer lag, und hätte am liebsten Warhols Schmetterling dazugepackt. Irgendwie beneidete ich meinen Bruder, weil er in der Lage war, alles hinter sich zu lassen und noch einmal ganz von vorne zu beginnen, ganz egal, wie irrsinnig das Vorhaben mir auch erschien. Vielleicht hatte er die Taktik ja von unserer Mum gelernt. Denn sie hatte die Luken schon vor Jahren dichtgemacht und achtete stets sorgfältig darauf, dass nichts von dem, was sie erlebt hatte, nach außen drang.
Auch ich hätte liebend gern vieles, das mir widerfahren war, einfach weggewischt, doch ich wusste, diese Technik hätte bei mir niemals funktioniert.
18
Man muss wirklich zäh sein, wenn man eine Rede hält, bei der das Publikum aus lauter Cops besteht. Ich hatte meine Kleidung für den Anlass sorgfältig gewählt und tauchte trotz der Hitze in langer Hose und hochgeschlossenem Pulli auf der Wache auf. Die Erfahrung hatte mich gelehrt, dass es in einer Katastrophe enden konnte, wenn man bei so einem Termin auch nur einen Zentimeter nackter Haut zeigte.
Burns hatte seinen Leuten eingeheizt, deshalb war der Raum bis auf den letzten Platz besetzt, doch der Einzige, der lächelte, war ein toter Mann. Während ich meinen Laptop hochfuhr, strahlte Leo Greshams Foto wohlwollend auf mich herab. Steve Taylor saß wie immer in der ersten Reihe neben Brotherton und grinste wie ein Sechstklässler, der nach einer verlorenen Wette mit rasiertem Kopf zum Unterricht erschienen war. Ich drückte auf den Enter-Knopf des Laptops und warf dadurch einen Stadtplan an die Wand. Als der letzte Polizist verstummte, wusste ich, mir blieben ungefähr zwanzig Sekunden Zeit, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu wecken. Deshalb fing ich sofort an.
»Banker sind im Allgemeinen unglaublich beliebt, nicht wahr? Diese großzügigen Menschen, die mit Eifer unser Geld vermehren, ohne jemals etwas für sich selbst zu wollen.« Ein paar von meinen Zuhörern johlten verächtlich auf. »Aber dies hier ist kein Rachefeldzug irgendeiner Gruppe, die es generell auf Banker abgesehen hat. Wenn es so etwas wäre, hätte diese Gruppe längst ein Manifest veröffentlicht. Diese Taten zielen auf bestimmte Menschen ab.« Ich zeigte auf die roten Punkte auf der Karte, dort wo die drei Opfer aufgefunden worden waren. King’s Cross, Gutter Lane und Staining Lane. »Die Opfer hatten alle etwas mit der Angel Bank zu tun, und die Angriffe auf sie fanden ausnahmslos dort in der Nähe statt. Gresham war der Leiter der Investmentabteilung, Nicole Morgan war als Marketingexpertin einmal in der Woche in der Bank, und Jamie Wilcox hat dort eine Ausbildung gemacht.«
Wieder drückte ich die Enter-Taste und rief die drei Engelbilder auf.
»Man könnte die Visitenkarten wörtlich nehmen und behaupten, dass die Engel uns einfach verraten sollen, wo die Opfer tätig waren, aber meiner Meinung nach geht es dem Täter dabei mehr um die Symbolik – darum, dass er sich den Opfern für moralisch überlegen hält, weil er von irgendetwas an der Bank, bei der sie waren, angewidert ist. Auch mit den Federn zeigt er uns, dass er seine Opfer verachtet. Kriegsdienstverweigerer bekamen früher oft als Zeichen ihrer Feigheit Federn in die Briefkästen gestopft. Aber sie verraten uns auch noch was anderes – nämlich, dass er jede Menge Zeit hat, um die Taten detailliert zu planen. Er ist entweder arbeitslos oder verfügt über ein privates Einkommen, weshalb er seine Opfer tagelang verfolgen kann, bis er ihre Routine kennt. Vielleicht
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