Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
Schritten das Büro verließ.
Burns wirkte nicht gerade beeindruckt, als ich zugab, dass ich noch einmal bei Poppy vorstellig geworden war, und erinnerte mich deutlich daran, dass ich ihn in solchen Angelegenheiten um Erlaubnis bitten musste, statt einfach alleine loszuziehen.
»Ich glaube, sie braucht Schutz. Weil sie schließlich mitten in der Gefahrenzone ist.«
Er schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Poppy hat nie bei dieser Bank gearbeitet. Unser Mann interessiert sich nur für Leute, die dort tätig sind, und außerdem hat Poppy ihren eigenen Bodyguard.«
Wenn auch widerstrebend, händigte er mir am Ende trotzdem Poppys Akte aus. Der Ordner war so dick, dass er fast nicht mehr in meine Aktentasche passte – offenkundig hatte Poppy schon vom Tag ihrer Geburt an Scherereien mit der Polizei gehabt.
Meine Supervisorin Sandra kam um zehn aus dem Maudsley Hospital ins Guy’s. Seit fünf Jahren verliefen unsere Sitzungen fast immer gleich. Sie war einer der wenigen Menschen, auf deren unvoreingenommenen, professionellen Rat ich mich verließ, und auch an ihr mitfühlendes Lächeln hatte ich mich irgendwann gewöhnt. Mit ihren kurzgeschnittenen weißen Haaren sah sie aus wie Judi Dench.
»Sie sehen müde aus, Alice. Wie bringen Sie die Arbeit hier mit all der forensischen Arbeit unter einen Hut?«
Ich wollte nicht zugeben, dass ich vor allem wegen Andrew kaum noch schlief, weil ich vor lauter Angst und gleichzeitiger Euphorie kein Auge zubekam. »Ich jongliere einfach ein paar Teller mehr als sonst.«
»Was wäre, wenn Sie einen Teller fallen lassen würden?«, fragte sie.
Ich stellte mir mich vor, wie ich inmitten eines Haufens von zerbrochenem Porzellan in einem Zimmer stand, und atmete tief durch.
»Hören Sie, Alice«, meinte Sandra, als ich schwieg. »Ich habe schon Leute mit Burnout erlebt, und kann Ihnen versichern, dass das alles andere als lustig ist. Wenn Sie weiter immer alle Arbeiten für alle Leute erledigen, brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn man Ihnen immer mehr auflädt.« Sie berührte sanft, doch zugleich fest mein Handgelenk, als taste sie nach meinem Puls. »Und wie stehen die Aktien zu Hause?«
»Besser, danke.« Sollte ich gestehen, dass ich immer noch versuchte, mich an die von meinem Bruder hinterlassene Leere und die Echos, die in meiner Wohnung hallten, zu gewöhnen?
»Haben Sie gehört, dass ich vorzeitig in Rente gehe? Der Verwaltungsrat hat meinem Antrag endlich stattgegeben.«
Ich hatte das Gefühl, als hätte sie mir einen Schlag versetzt. Es fiel mir schwer, mir jemand anderen an ihrer Stelle vorzustellen, zu dem ich ein ähnliches Vertrauen entwickeln könnte wie zu ihr. Trotzdem schaffte ich es, ihr zu gratulieren, und sie erzählte mir von ihrem Plan, auf eine Kreuzfahrt Richtung Indonesien zu gehen.
Den Rest des Tages brachte ich mit Schwitzen und Gesprächen zu. Die Patienten kamen, luden ihre Probleme bei mir ab und gingen wieder, bis ich das Gefühl hatte, die Annahmestelle für Pakete voller Leid zu sein. Schließlich aber ließ ich all die Päckchen in meinem Büro zurück und machte mich an meinen abendlichen Lauf. Heute sollte es mal weniger um die Distanz als um das Tempo gehen. Wenn Menschen in den Tropen lange Strecken laufen konnten, könnte ich doch sicher ein paar Kilometer hier in London rennen, selbst bei fünfundvierzig Grad. Bis ich allerdings das Cherry Garden Pier erreichte, hatte mir die Sonne das Gesicht verbrannt, und meine Muskeln schrien jämmerlich nach einer Pause, so dass ich meine Arme über meinem Kopf ausstreckte und in dem Verlangen nach mehr Sauerstoff den Mund aufriss. Gott sei Dank hatte ich vor, den Marathon zu laufen und nicht einen Hundert-Meter-Sprint. Das Training hätte mich wahrscheinlich umgebracht. Ich stand am Geländer und beobachtete einen Mann, der ein Stückchen weiter eine Angel in die Themse hielt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein Fisch aus derart trübem Wasser auch nur annähernd genießbar war. Wenn der Kerl vernünftig wäre, würde er sich seinen Fisch im Supermarkt besorgen so wie alle anderen auch.
Auf dem Weg nach Hause sehnte ich mich so verzweifelt nach etwas zu trinken und nach einer Dusche, dass ich nicht nach links und rechts blickte, während ich nach meinem Schlüssel kramte. Erst als ich in meiner Nähe Schritte hörte, drehte ich mich noch mal um. Jemand stand dort in der Dunkelheit. Eilig machte ich die Lampe neben meiner Haustür an und sah, dass der Besucher Andrew war. Sein
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