Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
sehen.«
»Wenn du Glück hast, habe ich dann noch nichts anderes vor.« Ich küsste ihn eilig auf den Mund und rannte die Stufen hinauf zur Eingangstür.
Zur Abwechslung waren mal keine Journalisten da. Sämtliche Beamten waren von frischer Energie erfüllt, und eine junge Polizistin hastete an mir vorbei und hielt so triumphierend ihren Kaffeebecher über ihren Kopf, als hätte man ihr die Olympiafackel in die Hand gedrückt. Verschiedene Gruppen von Beamten hatten sich im Raum verteilt, und ihre Gesichter drückten eine Mischung aus Erleichterung und völliger Erschöpfung aus. Burns hingegen hatte offenkundig einen so hohen Adrenalinschub, dass er trotz der sechzehn Stunden Dienst, die er geschoben hatte, immer noch taufrisch aussah. Gutgelaunt marschierte er mit mir in Richtung des Verhörraums. Als er mir jedoch verriet, wer dort festgehalten wurde, blieb ich abrupt stehen.
»Sie haben Liam Morgan die drei Morde nachgewiesen?«
»Noch nicht ganz. Aber es ist ja wohl ausnehmend verdächtig, dass er gleich bei seinem Anwalt angerufen hat.«
Ich starrte Burns mit großen Augen an. Das Einzige, woran ich denken konnte, war die Art, wie Morgan seiner Frau so vorsichtig den Tee serviert hatte, obwohl das für einen Mann mit derart ausgeprägten Muskeln sicher alles andere als leicht gewesen war.
»Aber Sie können beweisen, dass er seine Frau erst überfallen hat und kurz darauf im Krankenhaus erschienen ist, um dafür zu sorgen, dass es ihr dort an nichts fehlt?«
»Noch nicht. Deshalb sind Sie ja hier.« Burns sah mich mit einem schmalen Lächeln an. »Sie müssen ihn für mich begutachten. Bisher hat er den Mund nicht aufgemacht.«
Diese Arbeit war mir wenigstens vertraut. Denn ich hatte bereits Dutzende von Gutachten auf Polizeirevieren und in Gefängnissen erstellt. Manchmal wurden die Berichte vor Gericht verwendet oder halfen der Gefängnisleitung zu entscheiden, ob eine Verlegung des Gefangenen angeraten war. Oft sagten die Verdächtigen bei den Verhören, die ich mitverfolgte, kaum ein Wort oder wiederholten einfach immer nur »Kein Kommentar«. Doch die Physiologie kann viel verraten, denn Blickkontakte, Körpersprache und Vermeidungsstrategien sagen einiges über die seelische Verfassung eines Menschen aus.
Ich zog eine Kopie des Standardbewertungsbogens aus der Tasche und nahm im Observationsraum Platz. Ich fand es interessant, dass Taylor das Verhör durchführen würde – offenkundig dachte Burns, dass er durch die Beobachtung von Morgan mehr erfuhr, als wenn er selbst mit ihm sprach.
Taylor hatte für das Verhör den mit Abstand schlimmsten Raum der ganzen Wache ausgesucht. Der kochend heiße, fensterlose Raum mit der grellen Neonröhre sah wie die Verhörzelle in einem Dritte-Welt-Land aus, und fast hätte ich erwartet, die erstickten Schreie irgendwelcher Folteropfer im Hintergrund zu hören.
Schließlich wurde Liam Morgan in den Raum geführt. Er trug ein enges T-Shirt, und wie schon bei unserem ersten Treffen fiel mir auf, wie übertrieben muskulös er war. Mit den extrabreiten Schultern und der schmalen Taille sah sein Oberkörper wie das umgedrehte Dreieck aus, das für Bodybuilder typisch war. Wahrscheinlich hatte er seit Jahren jeden einzelnen Muskel täglich stundenlang trainiert. Seine Augen waren glasig, und als er sich auf einen der Plastikstühle setzte, sah ich die Konturen seiner Militär-Tattoos, und ich begriff, dass er zum Töten ausgebildet war. Sicher hatte er bei seinen Einsätzen im Ausland Hunderte von Todesfällen miterlebt.
Auch sein ältlicher Anwalt setzte sich und balancierte seine Aktentasche vorsichtig auf seinen Knien.
Taylor schaltete den Digitalrecorder an und nannte Datum und Uhrzeit des Verhörs. Dabei sah er mindestens so angespannt wie Liam Morgan aus. Er konnte es eindeutig kaum erwarten, sich vor Brotherton damit zu brüsten, dass der Mann, den er verhaftet hatte, umfänglich geständig war.
»Also fangen wir noch mal von vorne an, Liam.« Er stieß einen übertriebenen Seufzer aus.
Morgan starrte reglos vor sich auf den grob vernachlässigten Tisch. Er war mit den Abdrücken von unzähligen Kaffeebechern und mit Brandflecken noch aus den Zeiten übersät, in denen den Verdächtigen das Rauchen während des Verhörs erlaubt gewesen war.
»Ihre Haushälterin sagt, Sie wären am Abend des Überfalls auf Ihre Frau im Nebengebäude gewesen, wo sich Ihr Fitnessstudio befindet. Aber Sie hätten das Grundstück unbemerkt verlassen können. Wenn Sie
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