Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
Liam seine ganze Zeit bei seiner Frau verbracht. Er lässt sie praktisch nicht einen Augenblick allein.«
»So was ist nicht ungewöhnlich. Letztes Jahr hat in Birmingham ein Ex-Soldat hinterrücks auf seine Frau geschossen und ist dann mit ihr ins nächste Krankenhaus gerast. Er war untröstlich.«
»Aber warum hat er die drei anderen umgebracht?«
»Das hat er nicht. Ich bin mir sicher, dass die Sache mit Nicole einfach ein Familiendrama ist.«
Er sah mich reglos an. Auch wenn Taylor offenkundig davon überzeugt war, dass sie ihren Täter hatten, kämpfte Burns anscheinend noch mit sich.
Während mich ein Streifenwagen nach Hause brachte, dachte ich noch immer über Liam Morgan nach. Einerseits wäre ich froh gewesen, wenn die Jagd vorbei gewesen wäre. Andererseits aber entsprach der Mann nicht im Geringsten meinem Täterbild. Ich war immer noch der festen Überzeugung, dass er ausnehmend gebildet und in Fragen der Kultur und Religion bewandert war. Vor allem – warum hätte Morgan alle diese Menschen töten sollen? Vielleicht hatten ja die Bankerfreunde seiner Frau einmal zu oft auf ihn herabgesehen, oder vielleicht hatte ihn die sklavische Ergebenheit, mit der er seiner Frau begegnete, ihn irgendwann entmannt, und sein Zorn darüber hatte sich bis in den letzten Winkel ihrer exklusiven Welt erstreckt.
Ich blickte aus dem Fenster auf die dunklen Häuserreihen. Irgendwas an dieser Theorie war falsch. Männer griffen ihre Frauen aus vielen Gründen an: weil sie sie belogen hatten, fremdgegangen oder generell eine Enttäuschung für sie waren. Doch der Mord an Nicoles drei Kollegen passte nicht in dieses Bild. Was immer Liam auch verbrochen hatte – ich beneidete ihn nicht. Denn Taylor fielen sicher jede Menge neuer Möglichkeiten ein, um sein Ego über Nacht noch weiter zu zerstören, und dann würde er zurück in den Vernehmungsraum geschleppt und neuen Fragen ausgesetzt werden. Man würde auf ihn einhämmern, bis der schützende Mantel, der um seine Seele lag, den ersten Riss bekam.
29
Ich begann den nächsten Tag mit Würstchen, Speck und Eiern, und um mein schlechtes Gewissen wegen dieses denkbar ungesunden Frühstücks zu beruhigen, schob ich noch eine Banane nach. Die Kassiererin im Supermarkt hatte mir mit einem breiten Lächeln eine Gratisausgabe der Sun geschenkt, doch als ich sie aufschlug und die Schlagzeile erblickte, hätte ich die Köstlichkeiten, die ich kurz zuvor genossen hatte, beinahe wieder ausgespuckt. Durch Überschriften wie DIE SCHRECKENSHERRSCHAFT DES ANGEL KILLERS ! wurde der Täter zum Monster stilisiert. Ich warf die Zeitung wieder auf den Tisch und fragte mich, wie es wohl Liam Morgan letzte Nacht ergangen war. Wahrscheinlich leuchtete ihm Taylor immer noch mit einer Taschenlampe ins Gesicht. Bisher hatte die Polizei noch keine Einzelheiten zu seiner Verhaftung öffentlich gemacht, denn das hätte den allgemeinen Wirbel um Nicole vermutlich noch verstärkt. Durch das Küchenfenster sah ich die Geschäftsmänner, die in ihren Anzugjacken der tropischen Hitze trotzten, um bei ihren wichtigen Besprechungen so seriös wie möglich auszusehen. Andrew und seine Schwester waren sicher längst in Frankreich angekommen, und am liebsten hätte ich die Unterlagen, die ich durcharbeiten musste, in den Fluss geworfen und mich in den nächsten Zug Richtung Paris gesetzt.
Der Ordner vor mir war mit fettigen Fingerabdrücken übersät. Bestimmt hatten Dutzende von Polizisten ihn im Verlauf der Jahre in der Hand gehabt. Die Lektüre von Poppy Beckwith’ Akte berührte mich. Ihr Vater, ein Viscount, lebte auf einem herrschaftlichen Anwesen irgendwo in den Cotswolds, und nachdem ihn seine Frau verlassen hatte, hatte er die Tochter kurzerhand in einem Internat entsorgt. Infolge eines Zwischenfalls mit einem Bunsenbrenner und Benzin, bei dem der Chemiesaal leicht beschädigt worden war, hatte man den Teenager dort ebenfalls nicht mehr gewollt. Mit Anfang zwanzig hatte sich ihr Leben alptraumgleich erst auf diversen öffentlichen Toiletten, wo sie sich für Pillen und Alkohol verkauft hatte, und dann fast ein Jahr lang im Gefängnis abgespielt. Schwer vorstellbar, wie es der jungen Frau gelungen war, sich danach wieder hochzukämpfen. Aber schließlich besaß sie inzwischen eine Luxuswohnung in einer der angesehensten Gegenden der Stadt und verfügte über einen Kundenstamm, der ausschließlich aus Millionären zu bestehen schien.
Ich dachte an ihr schönes Gesicht und konnte den Gedanken nicht
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