BLUTIGER FANG (German Edition)
ihr bei der Knutscherei an die Schränke gekommen seid.“
Linda und Bronco blickten einander an. Es kam keine Widerrede. Seine Theorie war schlüssig und die beste Erklärung für das, was hier passiert war. Außerdem hatte sich der Löwe ja Gehör verschafft und das war Beweis genug, dass er irgendwie ins Restaurant gekommen war. „Und später habe ich sie wieder geschlossen.“
„Und jetzt?“, sagte Linda und sah ihn erwartungsvoll an.
„Also gut“, sagte Bronco, „nehmen wir an, ein Löwe ist im Restaurant – wobei ich das immer noch für krank halte, total krank ist das! – aber gut: Es ist also ein gottverdammter Löwe in diesem gottverdammten Restaurant. Warum kommt der gottverdammt noch mal nicht raus und legt uns alle um? Der muss uns doch gehört haben.“ Bronco war richtig laut geworden.
Joel versuchte zu lächeln. „Das hat er auch, darauf kannst du einen lassen. Doch wäre dieses Verhalten typisch für eine Großkatze, die ausgebüxt ist.“
„Was heißt typisch?“, sagte Bronco. Sein Ton verriet Ungeduld.
Joel blickte zur Uhr. „Nun, die landläufige Vorstellung vom ausgebrochenen Löwen, der munter in der Gegend rumrennt, reihenweise Leute umnietet und kleine Kinder frisst, stimmt eben nicht. Wenn so ein Tier ausbricht, fühlt es sich verunsichert. Es sucht einen ruhigen Ort auf und rührt sich nicht mehr – über Stunden, womöglich sogar über Tage hinweg. Das heißt, alles, worum es so einem Ausbrecher geht, ist zunächst einmal ein Versteck und Sicherheit.“
„Was? Ein Löwe versteckt sich?“ Linda glotzte wie ein Schaf.
„Ja, viele Tiere sind in hohem Grade abhängig von einem als sicher empfundenen Territorium. Und sicher ist es erst, wenn sie es gut kennen, wenn es ihr eigenes ist. Und das ist dieses Kaufhaus ganz bestimmt nicht. Stellt euch mal vor, wie fremd einem Löwen das Restaurant vorkommen muss. Die Evolution hat ihn dazu ausersehen, in der Steppe am Ende der Nahrungskette zu stehen, aber ganz bestimmt nicht dazu, in einem Kaufhausrestaurant herumzuspazieren. Der fühlt sich hier so fremd, wie ihr euch auf dem Mars fühlen würdet. Dazu kommt, dass Katzen von Natur aus sehr scheu sind. Ich weiß von einem Fall, wo in Hannover ein Leopard abgehauen ist, sich in den Harz durchgeschlagen hat und dort ein halbes Jahr zubringen konnte, ohne jemals auf einen Menschen zu stoßen. Menschenkontakt versuchen selbst Großkatzen immer zu vermeiden – abgesehen vielleicht von indischen Menschenfressern.“
„Vermeiden?“, sagte Bronco und lachte gezwungen auf, „was heißt vermeiden? Das Vieh hat Frank umgelegt. War das seine Art, Frank zu vermeiden?“
„Vermutlich ja. Aber nicht aus Angriffslust, sondern weil Frank ihm zu nahe gekommen sein muss. Die greifen nur an, wenn sie sich bedroht fühlen oder eben jagen, was der hier bestimmt nicht vorhat. Doch bedroht fühlen sie sich immer, wenn sie nicht flüchten können oder ihnen jemand auf die Füße tritt.“
Joel machte eine Pause.
Die anderen sagten keinen Ton und sahen ihn weiter gespannt an.
„Ein Bär“, sagte Joel, „wäre längst aus dem Restaurant gekommen. Aber ein Löwe …“
„Und was machen wir jetzt?“, sagte Linda. Sie rieb sich immer wieder die Oberarme und hob und senkte ihre Schultern.
„Wenn es ein Löwe ist – und ich bin mir sicher, denn es kann nur einer aus dem Park sein – dann haben wir ein ernsthaftes Problem. Jedenfalls dann, wenn wir ins Restaurant wollen. Sobald die Fluchtdistanz unterschritten wird, gehst du automatisch in die Angriffsdistanz über und dann bist du fällig.“ Bei diesen letzten Worten fixierte Joel Bronco auf eine Art, wie er es noch nie gewagt hatte.
Bronco schluckte trocken und schien zu ahnen, woran Joel dachte.
Bronco hatte selbst einmal gegen einen Hund gekämpft und ihn besiegt. Bei einer Kampfveranstaltung war der Neapoletano eines Bekannten aus der Box entwichen und über ihn hergefallen. Jeden anderen hätte der Hund mit Sicherheit aufgemischt. Der im Umgang mit Hunden aber erfahrene und kampferprobte Bronco hatte ihn in einem blutigen Kampf mit einer Leine erstickt. Bronco hatte damals heftige Wunden davongetragen, wie Narben an seinen Unterarmen heute noch zeigten.
„Das heißt also“, sagte Linda in die Stille hinein und löste die starre Blickhaltung Joels auf Bronco ab, „wenn wir dem Restaurant fernbleiben, kann uns auch nichts passieren?“
„Im Prinzip ja, solange er
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