BLUTIGER FANG (German Edition)
offen beziehungsweise das, was davon noch übrig war, so, als wolle er schreien. Und noch der Tote wirkte auf eine entsetzliche Weise hilflos – Bronco hörte ihn förmlich nach seiner Mutter rufen, der es erspart geblieben war, das grausige Ende ihres Sohnes mitzuerleben.
Andächtig stand Bronco vor ihm. Der Nachtwächter tat ihm mit einem Mal unendlich Leid und ihn überkam nun das bissige Gefühl, an seinem Tod nicht unschuldig zu sein. Immer wieder sah er dorthin, wo noch vor kurzem das Gesicht gewesen war, sah das offene, klaffende, schleim- und blutverschmierte Loch, wo eben noch der Mund gewesen war, und Bronco spürte sich leicht zittern. Vielleicht war es besser, nicht länger auf den Toten zu starren, da er sonst Gefahr liefe, diesen Anblick für den Rest seines Lebens in Alpträumen ertragen zu müssen. Er wünschte sich plötzlich, Linda umarmen zu können.
Linda! – Kramer! Die Erlebnisse der vergangenen Minuten hatten ihn vergessen lassen, warum er eigentlich hierher gekommen war.
Plötzlich schreckte er aus seinen Gedanken hoch, wandte sich um und starrte gebannt in die Dunkelheit. Gefahr? Nein, es war keine Gefahr, so schien es zumindest. Oder doch? War bei der Spielwarenabteilung nicht irgendwas gewesen?
Es war nicht ratsam, allzu lange hier im Lichtschein des Restaurants zu stehen, solange nicht klar war, wo die Löwen steckten. Womöglich würden sie ihn entdecken und Hackfleisch aus ihm machen, so wie sie es mit den anderen getan hatten. Doch dann verschwand die Panik so schnell, wie sie gekommen war.
Bronco wischte sich die Stirn ab.
Jetzt, wo die Wächter tot waren, schien er alle Zeit der Welt zu haben. Bis zu deren Erscheinen hatte sie eine große Rolle gespielt, weil ursprünglich geplant war, abzuhauen, bevor sie auftauchen würden.
Ursprünglich geplant! Wie lächerlich es ihm auf einmal vorkam. Was hatten sie nicht alles ursprünglich geplant. Ein Wink des Zufalls hatte alles umgeschmissen. Ausgerechnet heute waren die Löwen ausgebrochen und dann auch noch ins Kaufhaus eingedrungen. Und jetzt waren die Wächter tot, der Alte vermutlich auch, und Frank …
Ja, was war mit Frank?
Bronco wandte seinen Kopf um und spürte, wie der Keim eines Siegesbewusstseins in ihm aufging. Denn was ihn zu hindern gedroht hatte, sein Ding durchzuziehen und Beute zu machen, war ausgeräumt. Das hieß, er konnte den Schmuck noch immer holen und das Geld lag vermutlich im Restaurant bei dem Alten. Er brauchte nur hineinzugehen und es aufzuheben.
Und am Tod der Wächter war nicht er schuld. Schließlich hatten die Löwen die Wächter getötet und nicht er. Die Löwen waren es auch, die den Alten und Frank getötet hatten, und nicht er. Sie waren schuld, nicht er!
Der Klingelton seines Handys zerschnitt so jäh die Stille, dass Bronco zusammenzuckte. Es musste irgendwo auf der Treppe liegen, denn es schellte nur leise.
Verdammt, die Löwen! Die hörten das wohl auch! Waren sie vielleicht schon auf dem Rückweg?
Er zog es vor, nicht länger auf der Stelle zu bleiben, sondern eilte ins Restaurant.
Dort sah es aus als hätte eine Bombe eingeschlagen. Der beißende Duft eines Raubtierkäfigs stieg ihm in die Nase. Dieser typische Mix aus Fleischfressergeruch und dem von Heu, Stroh und Exkrementen drängte in ihn und erinnerte ihn schlagartig an den letzten Zoobesuch, der weit in seiner Kindheit zurücklag. Die Eltern hatten ihn mit in den Zoo nach Hannover geschleppt, wo er auch im Raubtierhaus gewesen war, und diese Situation stand ihm jetzt glasklar vor Augen.
Doch das hier war kein Zoo. Sie waren hier mitten in der Nacht mit zwei ausgewachsenen Löwen zusammen und nichts trennte sie voneinander als der Drang der einen, in Ruhe gelassen zu werden, und die Furcht der anderen, den Ersten nach Möglichkeit überhaupt nicht zu begegnen. Das waren die unsichtbaren Gitterstäbe, die sie voneinander trennten. Und niemand durfte wagen, diese Gitterstäbe zu durchdringen. Nur, wo und wie konnte man sicher sein, dies nicht zu tun?
Bronco sah sich um, während draußen das Mobiltelefon weiterlärmte, und ging zu den Leichen. Dann blickte er zu Frank.
Der lebte! Und nicht nur das! Er hob sogar den Kopf etwas an und schwenkte mit dem Handy vor den Augen herum. Also war es doch er, der die ganze Zeit versucht hatte, ihn zu erreichen.
Bronco spürte eine glimmende Hitze in seinen Wangen.
Er ging auf den Freund zu, bückte sich und nahm ihm das Handy ab. Sein Finger betätigte den Knopf Auflegen und
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